Eine neue Ära in der Sozialdemokratie beginnt
Unter dem neuen Parteivorsitzenden Bruno Kreisky wurden die Weichen der SPÖ in mehrfacher Hinsicht neu gestellt. Als „Modernisierung der Gesellschaft“ und „Humanisierung der Arbeitswelt“ können zwei wesentliche Eckpunkte bezeichnet werden, die Kreiskys Arbeit als Bundeskanzler und Parteivorsitzender prägten. Er setzte aber auch auf wissenschaftliche Beratung. Schon zu Beginn seiner Amtszeit forcierte er die programmatische Erneuerung, indem er 1.400 Experten beauftragte, „Alternativen für ein modernes Österreich“ in Bereichen wie Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft zu formulieren. Dies bildete den Hintergrund für eine umfassende Reformpolitik, die in unterschiedlichen Bereichen eine notwendige Erneuerung einleitete. Im Jahr 1969 startete die SPÖ unter seiner Führung gemeinsam mit der Fraktion sozialistischer Gewerkschafter im ÖGB ein Volksbegehren zur Einführung der 40-Stunden-Woche. Das Ergebnis war überaus erfreulich: Rund 890.000 Unterschriften unterstützen diesen Vorstoß. Bereits mit Jahresbeginn 1970 erlangte dann der Generalkollektivvertrag über die Einführung einer 43-Stunden-Woche Gültigkeit, die 40-Stunden-Woche wurde ab 1. Jänner 1975 Realität.
1970 bis 1971 – Die Zeit der Minderheitsregierung
Bei den Nationalratswahlen am 1. März 1970 erreicht die SPÖ überraschend die relative Mehrheit. Bruno Kreisky wird Bundeskanzler und bildet eine Minderheitsregierung unter Duldung der FPÖ. Gleich im ersten Jahr seiner Regierungszeit verwirklicht Bruno Kreisky zahlreiche Reformen, die noch heute als Meilensteine der Politik gelten.
In den 1970ern schlägt die große Stunde der Sozialdemokratie.Bei den Bundespräsidentschaftswahlen 1971 gewinnt der Sozialdemokrat Franz Jonas klar vor Kurt Waldheim. Am 10. Oktober desselben Jahres erringt die SPÖ unter Kreisky bei den Nationalratswahlen erstmals die absolute Mehrheit. Bruno Kreisky konnte auf Vorarbeiten der Oppositionsjahre aufbauen. Bis zum historischen Wahlsieg 1970 hatte der neue Bundesparteivorsitzende eine grundlegende Modernisierung des Parteiprogramms und eine Öffnung der Partei gegenüber neuen Wählerschichten durchgezogen. Dieser Weg wurde nun im großen Stil fortgesetzt. „Besser wohnen, besser leben, bessere Bildung, besseres Gesundheitswesen, bessere Justiz“, war Kreiskys Ziel. Intellektuellen, kritischen Denkern, durchaus auch jenen, die der SPÖ skeptisch gegenüberstanden, bot er für dieses Ziel an, „ein Stück des Weges“ mit ihm zu gehen.
1971 bis 1975 – Alleinregierung der SPÖ
Nach dem Sieg für die Sozialdemokraten setzt Bruno Kreisky seine Reformarbeit zügig fort. Beim Parteitag im April 1971 setzten die SPÖ-Frauen die Einführung der Fristenlösung durch, und im selben Jahr wurden auch gleichgeschlechtliche Beziehungen legalisiert. 1971 wird die Schülerfreifahrt eingeführt, ab dem Schuljahr 1972/73 bekommen alle Schülerinnen und Schüler gratis Schulbücher. 1973 wird die Mehrwertsteuer eingeführt, 1974 das reformierte Strafrecht. Weiters erfolgt 1974 eine ORF-Reform. Im Jahre 1974 kommt es auch zu einer Reform im Schulunterrichts- und Arbeitsverfassungsgesetz, und der Zivildienst wird als Alternative zum Präsenzdienst geschaffen. All diese Reformen sorgen für eine weitere Demokratisierung der Gesellschaft, liberalisieren das gesellschaftliche Klima und bringen der SPÖ noch größeren Zuspruch von Seiten der Bevölkerung. Ein weniger erfreuliches Kapitel stellte Mitte der Siebzigerjahre der Konflikt Kreiskys mit dem Leiter des jüdischen Dokumentationszentrums Simon Wiesenthal dar. Dieser deckte die SS-Vergangenheit des damaligen FPÖ-Obmannes Friedrich Peter auf, zu dem Kreisky ein gutes politisches Verhältnis pflegte. Kreisky reagierte harsch auf diese Vorwürfe und bezichtigte Wiesenthal der Nazi-Kollaboration, woraufhin Wiesenthal wegen übler Nachrede klagte – und gewann.
Am 23. Juni 1974 wird der auf Vorschlag Kreiskys aufgestellte parteilose SPÖ-Kandidat Rudolf Kirchschläger zum Bundespräsidenten gewählt. Als er sich 1980 erfolgreich der Wiederwahl stellte, nominierte die ÖVP keinen eigenen Kandidaten und schloss sich der Wahlempfehlung für Kirchschläger an. Bei den Nationalratswahlen am 4. Oktober 1975 können die Sozialdemokraten unter der Devise „Kreisky – wer sonst?“ einen noch deutlicheren Sieg erringen.
Kreiskys Außenpolitik
Kreiskys Lieblingsbetätigungsfeld – abseits von innenpolitischen Reformvorhaben – blieb aber die Außenpolitik. Der Nord-Süd-Konflikt und vor allem die Nahostfrage blieben Zeit seines Lebens die Gebiete, auf denen er seine größten Erfolge feierte. Als er im März 1974 zur ersten „Fact Finding Mission“ in den Nahen Osten aufbrach, erkannte er schon bald die Sprengwirkung des Palästinenserproblems und entwickelte Perspektiven, die ihm besonders bei seinen israelischen Parteifreunden heftige Kritik einbrachten, die heute aber weitgehend unbestritten sind.
1978 kam es zum aufsehenerregenden Treffen zwischen Kreisky, Willy Brandt, Shimon Peres, Anwar el Sadat in Wien, ein Jahr später zum Gipfel Brandt-Kreisky-Arafat. Kreisky war der erste Regierungschef, der den Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Yassir Arafat, empfing. 1980 erkannte Österreich als erster westlicher Staat die PLO an. Nicht zu unterschätzen ist zudem Kreiskys Engagement beim Aufbau der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), der späteren OSZE. Kreisky förderte eine Entspannungspolitik zwischen Ost und West. Kreiskys internationales Engagement machte Wien zu einem Ort des internationalen Austauschs und Dialogs. Am 1. Jänner 1980 wird Wien der dritte Standort des UNO-Sekretariats, was nicht zuletzt auf Kreiskys Wirken zurückzuführen ist.
1975 – Die SPÖ erringt zum zweiten Mal die absolute Mehrheit
Ab Mitte der 1970er liegt der Schwerpunkt der sozialistischen Regierungspolitik im wirtschaftlichen Bereich. Dennoch fallen viele soziale Meilensteine in diese Regierungszeit. So wird 1977 der Mindesturlaub eingeführt und ein Milizheer aufgebaut. Ab 1978 gibt es das Kindschaftsrecht und ein neues Ehegesetz tritt im Rahmen der Familienrechtsreform in Kraft. Ab 1979 sorgen die Arbeiterabfertigung und das neue Gleichberechtigungsgesetz für mehr Rechte für Arbeitnehmer. Nach Ende der Hochkonjunktur im Jahre 1974 und der im Gefolge des Ölpreisschocks immer stärker werdenden internationalen Wirtschaftskrise versucht die SPÖ, die Folgen für Österreich möglichst gering zu halten. Die Rechnung geht auf. Zwischen 1975 und 1981 bleibt die Vollbeschäftigung erhalten und die Arbeitslosenrate steigt im Vergleich zu den anderen europäischen OECD-Ländern nur minimal. Dies gelingt hauptsächlich durch ein breites Programm staatlicher Infrastrukturinvestitionen sowie den gezielten Einsatz des großen verstaatlichten Sektors. Für die Maßnahmen im wirtschaftlichen Bereich mitverantwortlich zeichnet der damalige Finanzminister und Vizekanzler Hannes Androsch, der als bislang jüngster Minister 1971 in die Regierung berufen wurde. Später geriet er aber durch die parallele Führung einer Steuerberatungskanzlei in öffentliche Kritik und es kam zum Zerwürfnis mit seinem politischen Mentor Kreisky. Aus Anlass seines 65. Geburtstags wird Kreisky 1976 mit der Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien geehrt. Im selben Jahr wird die „Bruno Kreisky Stiftung für Verdienste um die Menschenrechte“ gegründet, die alle zwei Jahre Persönlichkeiten, die sich um die Menschenrechte verdient gemacht haben, auszeichnet. Im November wird Kreisky beim 13. Kongress der Sozialistischen Internationale zu einem der Vizepräsidenten gewählt – Präsident wird Willy Brandt.
1978 – Zwentendorf
In den Siebzigern ist „Atomenergie“ das Schlagwort der Zeit und es entsteht ein regelrechter „Bauboom“ von Atomkraftwerken in Europa. Noch zu Zeiten der ÖVP-Regierung wird der Bau des einzigen österreichischen Atomkraftwerks „Zwentendorf“ beschlossen und auch die SPÖ-Führung spricht sich für eine Inbetriebnahme des Reaktors aus. Nach zahlreichen Expertendiskussionen und einer breiten Anti-Atom-Bewegung wird eine Volksabstimmung beschlossen, die schließlich mit einem knappen „Nein“ gegen Zwentendorf ausgeht. Zwentendorf wird nicht in Betrieb genommen, im Dezember 1978 wird das Atomsperrgesetz beschlossen.
1978 – Das neue Parteiprogramm
1978 wird ein neues SPÖ-Parteiprogramm beschlossen. Kreisky lässt ein pluralistisch zusammengesetztes Expertenteam einen breit gefächerten Katalog mit Fragen über die Gesellschaftsentwicklung ausarbeiten. Dieser wird dann in der Partei beraten und schließlich beschlossen. Das neue Parteiprogramm verbindet Grundwerte wie Gleichheit, Freiheit, Solidarität mit Zielen wie einer klassenlosen Gesellschaft. Es bleibt skeptisch gegenüber einem bürokratischen Staatsapparat, bekennt sich zur Fortsetzung des „österreichischen Weges“ wie Sicherung der Vollbeschäftigung, Ausbau von Sozialrechten für Arbeitnehmer. Ebenso wird ein weiterer Schwerpunkt auf die Fortführung der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft gelegt.
1979 – Die SPÖ erreicht das beste Wahlergebnis in der Parteigeschichte
Bei den Nationalratswahlen 1979 erreicht die SPÖ mit 51,03 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis in der Parteigeschichte. Nun steht die SPÖ und Kreiskys „österreichischer Weg“ am Höhepunkt ihres Einflusses. Johanna Dohnal wird „Staatssekretärin für allgemeine Frauenfragen“. 1980 wird Kreisky in Paris von einem Gremium aus Politikern, Künstlern und Wissenschaftlern zum Politiker des Jahres gewählt. Zwei Jahre später wird der Bundeskanzler mit 484 von 489 Stimmen erneut zum Parteivorsitzenden der SPÖ gewählt – ein Amt, das er mittlerweile 15 Jahre bekleidet hatte. In den 1980ern macht der SPÖ neben internen Spannungen auch die internationale Entwicklung zu schaffen. Der politische Trend wendet sich immer mehr dem Neo-Konservatismus zu. Während in der BRD die sozialliberale Ära mit der Amtszeit von Helmut Schmidt zu Ende geht, beginnt auch in den USA und in Großbritannien die Zeit der neokonservativen Politiker. Obwohl gesundheitlich angeschlagen, entschließt sich Kreisky, dennoch als Spitzenkandidat für die Nationalratswahlen 1983 anzutreten. Er betonte aber, nur als Kanzler einer SPÖ-Alleinregierung zur Verfügung zu stehen. Bei den Wahlen am 24. April 1983 bleibt die SPÖ zwar noch stimmenstärkste Partei, verliert aber deutlich an Prozenten und ist mit 47,6 Prozent gezwungen, eine Koalition einzugehen. Kreisky macht seine Rücktrittsankündigung wahr und übergibt den Parteivorsitz an Fred Sinowatz.
Kurzbiografie
Am 22. Jänner 1911 wurde Bruno Kreisky als Sohn eines jüdischen Geschäftsmannes in Wien geboren. Schon bald war er im Verband der Sozialistischen Mittelschüler und in der Sozialistischen Arbeiterjugend aktiv. Als Mitglied der Revolutionären Sozialisten wurde er im Austrofaschismus verhaftet und war einer der Angeklagten im Sozialistenprozess von 1936. Als der Nationalsozialismus in Österreich die Macht übernahm, musste er nach Schweden emigrieren. Er kehrte 1951 nach Österreich zurück und war als Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten maßgeblich an den Staatsvertragsverhandlungen beteiligt. Zwischen 1959 und 1966 diente er als Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten in der Großen Koalition. Im Februar 1967 wurde er zum Parteivorsitzenden der SPÖ gewählt. Bei den Nationalratswahlen 1970 erreichte er mit der SPÖ die relative Mehrheit und wurde österreichischer Bundeskanzler. Bei den drei folgenden Wahlen (1971, 1975 und 1979) gewann die SPÖ die absolute Mehrheit. In der als Ära Kreisky bezeichneten Zeit (1970-1983) gelang es ihm, eine grundlegende Modernisierung der österreichischen Gesellschaft durchzuführen. Vor allem durch seine zahlreichen internationalen Aktivitäten und die Friedensbemühungen im Nahost-Prozess trug er wesentlich dazu bei, die internationale Rolle Österreichs zu stärken. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei den Nationalratswahlen 1983 zog sich Bruno Kreisky aus der Politik zurück. Er starb am 29. Juli 1990 in Wien.
Bruno Kreiskys Lebenslauf
- Geboren am 22. Jänner 1911 in Wien
- Ab 1926 in der Sozialistischen Arbeiterjugend tätig.
- 1929 Beginn des Studiums der Rechtswissenschaften (Promotion: 1938)
- 1935-1936 und 1938 politische Freiheitsstrafen
- 1938-1945 im schwedischen Exil
- 1946-1949 Diplomat in Stockholm
- 1951-195353 politischer Berater von Bundespräsident Theodor Körner
- 1953-1959 Staatssekretär im Bundeskanzleramt
- 1959-1966 Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten
- 1967-1983 Bundesparteivorsitzender der SPÖ
- 1970-1983 Bundeskanzler
- 1976-1989 Vizepräsident der Sozialistischen Internationale
- Gestorben am 29. Juli 1990 in Wien.