Victor Adler: Mein erster Mai (1909)

Die erste Maifeier 1890 habe ich nicht im Prater miterlebt, sondern im Wiener Landesgericht, Zelle 32, im ersten Stock. Es war ein einsamer Tag, einsamer als jeder andere in den vier Monaten, die ich damals abzusitzen hatte, aber ein Tag der tiefsten Aufregung, die ich auch heute noch in mir zittern fühle, wenn ich an ihn denke. Der Text entstammt der Festschrift zum 1. Mai 1909.

Natürlich war es mir recht unlieb, gerade am 1. Mai nicht draußen sein zu können und es war recht sonderbar, daß es so kam. Denn Herrn Holzingers Ausnahmsgericht hatte Bretschneider und mich schon am 27. Juni wegen anarchistischer Bestrebungen abgeurteilt. Der Oberste Gerichtshof ließ sich allerdings bis zum 7. Dezember Zeit, um das Urteil zu bestätigen, aber noch immer hatte ich die Hoffnung, rechtzeitig die Strafe antreten zu können, um in der zweiten Hälfte April wieder auf freien Fuß zu kommen. Ich urgierte die Zustellung des Urteils, aber je mehr ich drängte, desto länger dauerte es, und erst am 24. Jänner kam ich in den Besitz des Schriftstückes. Wir waren damals überzeugt, daß die Trägheit des Amtsschimmels in Dienste höherer politischer Absichten stehe. Aber ich konnte nun nichts anderes tun, als ein paar Wochen Strafaufschub fordern, um wenigstens an den Vorbereitungen zur Maifeier meinen Anteil nehmen zu können, und Ende Februar mußte ich ins Loch. Es war meine erste Haft und sie fiel mir nach den ersten Tagen der Anpassung wahrhaftig nicht schwer. Ich hatte mir was ich übrigens auch später bei allen Rückfällen prinzipiell tat, die Einzelhaft als Begünstigung erbeten und durchgesetzt, und da ich Bücher hatte und als „Politischer“ überdies täglich für einen Gulden und fünf Kreuzer ausspeisen durfte, war meine Lage nicht schlecht. Wie ich überhaupt diese kurzen Arreststrafen niemals als Martyrium empfunden habe.

Trotz mancher physischer Unbequemlichkeit habe ich damals und später im Arrest Stunden der Ruhe, der Sammlung, ja Erhebung erlebt, die ich zu meinen besten Erinnerungen zähle. Aber je näher der 1. Mai heranrückte, desto unruhiger wurde ich, bis sich die Erregung zu einer fast unerträglichen Spannung steigerte. Das kann nur der ganz verstehen, der miterlebt hat, was für uns jene erste Maifeier war, was sie für das Proletariat Österreichs bedeutete…

Seit dem Hainfelder Parteitage war die Organisation der Partei rasch gewachsen, unsere Presse gewann an Verbreitung und Einfluß, die Absurdität des Ausnahmszustandes und seiner dummdreisten Praktizierung wurde täglich augenfälliger. Da holte die Staatsweisheit zu einem entscheidenden Schlag aus. Dem „Anarchistenprozeß“, den sie uns anhängten, folgte die Einstellung der „Gleichheit“ auf dem Fuße. Aber vier Wochen später hatten wir für ein neues Blatt: die „Arbeiter-Zeitung“ gesorgt und standen als Delegierte der österreichischen Sozialdemokratie im Saale der rue Rochechouart in Paris beim ersten Internationalen Sozialistenkongreß. Als wir unsere Hände erhoben, um für den Antrag des Genossen Lavigne zu stimmen, für die Veranstaltung einer „großen, einheitlichen Manifestation der Arbeiter aller Länder“, die am 1. Mai stattfinden und der Forderung des Achtstundentages gewidmet sein sollte, da sahen wir einander ins Auge – ich sehe noch Popp und Hybes, neben denen ich stand – fragenden Blickes, was wir unserem armen Österreich mit diesem Beschlusse würden machen können? Der Kongreßbeschluß besagte: „In jedem Lande sollen die Arbeiter die Manifestation in der Weise veranstalten, welche die Gesetze und Verhältnisse daselbst bedingten, beziehungsweise ermöglichen.“ Was war in Österreich möglich??

Wir hatten keine Vertreter im Parlament, unsere Presse stand unter der Guillotine der Konfiskation und der ausnahmsgesetzlichen Sistierung; unsere Vereine wurden unter unsäglichen Schwierigkeiten ganz langsam und allmählich erst wieder aufgebaut, unsere Versammlungen waren dem Belieben jedes Polizeiidioten preisgegeben; jede Art von Manifestation, wie sie in gesitteten Ländern möglich und üblich ist, konnte in Österreich durch den Ukas jedes Bureaukraten vereitelt werden. Und doch waren gerade damals alle Vorbedingungen für eine gewaltige Manifestation gegeben, für eine Manifestation nicht allein der Partei, sondern darüber hinaus: des Proletariats. Es war eine Zeit des Erwachens, des Dranges. Der lange brach gelegene Boden nahm hungrig die Saat auf, die von der Sozialdemokratie ausgestreut wurde. Wir waren über alle diese dummen und boshaften Quälereien der Staatsgewalt, über alle diese unsäglichen Borniertheiten der bürgerlichen Presse hinausgewachsen. Die Arbeiterschaft war im Begriff zu erwachen; es bedurfte nur des Anrufes, des Appells, daß es sich erhebe, sich als Ganzes, als kämpfender Körper, als eine Einheit, als Klasse gegen alle anderen Klassen fühle und den lähmenden Traum seiner Ohnmacht abstreife. Dieser Weckruf mußte für uns in Österreich die Maifeier sein. Wir haben wie so oft aus der furchtbaren Not eine furchtbare Tugend gemacht, und weil wir nicht simpel manifestieren konnten, gerade darum haben wir dem Tag die Höhe einer Weihe gegeben, die unerreichbar war für alle Verbote und Schikanen. Am 29. November verkündete die „Arbeiter-Zeitung“ die Parole: „Der 1. Mai 1890 soll der internationale Arbeiterfeiertag werden. An diesem Tage soll die Arbeit überall ruhen, in Werkstatt und Fabrik, im Bergwerk wie in der dumpfen Kammer des Hauswebers. Der Tag soll heilig sein und heilig wirklich wird er dadurch, daß er den höchsten Interessen der Menschheit gewidmet ist. Die Menschheit hat heute kein höheres Interesse, als die proletarische Bewegung, als insbesondere die Abkürzung der Arbeitszeit.“ Dann wurde als Programm vorgeschlagen:

Vormittags Versammlungen, nachmittags Erholen im Freien und weiter hieß es: „Die Genossen sehen, unsere Vorschläge sind einfach, durchführbar und gewiß sehr harmlos, kein Streik! Donnerstag, am 1. Mai, ist Arbeiterfeiertag, aber Feiertag, am 2. Mai, ist jeder wieder in seiner Schwitzbude, früher gewiß als Herr Chef an diesem Tage, der müde ist von der ‚Erholung’.

Also ganz friedlich. Aber warum sollen die Arbeiter nicht ihren Feiertag haben?“ – Und von der Stunde an, da dieser Aufruf erschien, ging eine große, von Tag zu Tag wachsende Bewegung durch das ganze Reich. Hunderte von Versammlungen mit der Tagesordnung:

„Achtstundentag und 1. Mai“ wurden einberufen und wirkten, wenn sie verboten wurden, fast noch mehr, als wenn sie stattfinden konnten. Ein Flugblatt über den Achtstundentag fand massenhafte Verbreitung. Täglich erhielten wir Nachrichten aus Orten, wo es sich nie gerührt hatte, daß Vorbereitungen für die Maifeier im Gange seien. Wahrhaft rührende Briefe von ganz naiven, von der Bewegung bisher unberührt gebliebenen Arbeitern aus entferntesten Winkeln des Reiches zeigten, wie unser Weckruf in die Weite gewirkt, wie er das rechte Wort zur rechten Stunde gewesen…

Und mitten in dieser fieberhaften Agitationsarbeit mußte ich ins Loch! Zwar war ich von der Welt nicht völlig abgeschnitten. Ich durfte außer der „Wiener Zeitung“ die alte „Presse“ lesen, ein seither verschwundenes, sehr solides, hochoffiziöses Blatt, und bei gelegentlichen Besuchen meiner Frau und meiner Freunde erfuhr ich manches, was in der Welt vorging, erfuhr, wie mit dem Wachsen der Maibewegung im bürgerlichen Publikum, in der bürgerlichen Presse, ja offenbar auch in den „maßgebenden“ Regierungskreisen die Furcht aufkam, daß dieser 1. Mai eine Art von jüngstem Tage sein werde, zum mindesten ein Tag der Schreckensherrschaft und der Plünderung. Daß in dieser wahnsinnigen Angst eine Gefahr lag, war klar. Alle Zusammenstöße, alle Krawalle, alles Blutvergießen ist noch viel öfter durch die dumme Furcht der Behörden als durch ihre Brutalität herbeigeführt worden. Daß die Maifeier im Polizeisinn „harmlos“ sein werde, glaubte man uns von Tag zu Tag weniger. Der Schrecken war dem Bürgertum in die Glieder gefahren und nahm im April ganz unglaubliche Formen an. Um ein Beispiel anzuführen: Der Wiener Wissenschaftliche Klub, eine Körperschaft, in der so ziemlich die obersten Schichten der Intelligenz vereinigt waren, beschloß, seine gewohnte Frühjahrsreise abzusagen, weil man doch am 1. Mai nicht Weib und Kind im Stich lassen konnte. Andere wieder entschlossen sich, vor dem gefürchteten Tage mit ihren Familien aus Wien zu flüchten. Dabei hetzte die bürgerliche Presse in allen Tonarten, und als es anfangs April in einigen Ottakringer Branntweinschenken zufällig zu ein paar Exzessen des Lumpenproletariats kam, woran die Arbeiterschaft, wie offiziell zugegeben wurde, ganz unbeteiligt war, stieg die Angst zu einer grotesken Höhe. Man erörterte in Regierungskreisen die Einberufung der Reservisten; jedenfalls sollte das Militär konsigniert und alle Läden gesperrt werden. Am Morgen des 1. Mai noch war in der „N. Fr. Presse“ zu lesen:

„Die Soldaten sind in Bereitschaft, die Tore der Häuser werden geschlossen, in den Häusern wird Proviant vorbereitet, wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind verödet, die Kinder wagen sich nicht auf die Gasse, auf allen Gemütern lastet der Druck einer schweren Sorge…“

Aber so gefährlich diese blödsinnigen Angstexzesse waren, es war nichts zu befürchten, wenn die Feier gelang. Die Glücklichen, die draußen waren und mitarbeiten konnten, die zweifelten nicht einen Augenblick. Aber für mich gab’s manche bange Momente. Die Haft bringt wohl für jeden hie und da Stunden der Depression, wie man sie ja auch draußen hat, die aber in der Einsamkeit schwerer überwunden werden. Da rannte ich wohl stundenlang auf und ab und erwog alle Möglichkeiten.

Allerdings, jede Woche ging die Bewegung höher, und alle Zumutungen der Behörden, nachzugeben, das Programm einzuschränken, wurden höflich, aber entschieden abgelehnt. Die Arbeitsruhe würde umfassend sein, das war ja klar; und als die Zeitungssetzer beschlossen, dass sie feiern werden, war entschieden, daß auch der Eindruck nach außen auf das große Publikum ein bedeutender sein werde; daß es keine Zeitungen gibt, ist ein Hauptmerkmal des Feiertages. Aber wird die Polizei nicht provozieren? Werden unsere Genossen kaltes Blut bewahren? Und wenn die Versammlungen verboten werden? Muß es dann nicht zu Zusammenstößen kommen?

Und wie wird’s draußen in der Provinz werden, auf heißem Boden der Kohlenreviere? Und dann wollen die Unternehmer uns einreden, die Maifeier sei „Kontraktbruch“! Es ist ja Unsinn, aber wird das nicht doch da und dort die Arbeiter einschüchtern?… Da setzte ich mich denn hin und schrieb und schrieb… polemisierte und argumentierte; so lange Artikel habe ich weder vorher noch nachher geschrieben; und dann schrieb ich Aufrufe und verfaßte Instruktionen. Heute kann ich’s ja gestehen, daß es mir gelang, manches Produkt dieser Gefängnisarbeit ins Freie zu schmuggeln, so daß ich doch auch etwas beitragen konnte zu dem großen Werke.

In der letzten Aprilwoche hatte ich fast täglich Besuche. Es war entschieden: unser harter Schädel hatte gesiegt, die Versammlungen waren nicht verboten, die Polizei hatte sich entschlossen, einigermaßen vernünftig zu sein und uns gewähren zu lassen. Als mir Popp und Bretschneider berichteten, unsere tausend Ordner seien parat, mussten sie mir aber auch erzählen, daß im Prater die Drähte, die die Rasenplätze umsäumen, entfernt wurden, damit die Kavalleriepferde bei der eventuellen Attacke nicht stürzen. Und ich selbst, so oft ich am 1. Mai in die Kanzlei geführt wurde, hörte von draußen den Schritt der Soldaten, und erfuhr, daß alle Tore des Landesgerichtsgebäudes selbst geschlossen gehalten, daß die ganze Justizwache und alle Aufseher konsigniert seien. Ich lachte über die Dummheit, aber das Lachen kam mir nicht vom Herzen, denn ich wußte, die gefährlich solche Dummheit werden konnte… Mittag kam Bretschneider auf eine Minute, beruhigte mich über den Verlauf der Versammlungen und steckte mir seine Marschorder und ein Maizeichen zu – das ich dann oben in der Zelle ansteckte, wenn der „Wastl“ weit vom Guckloch war – das war ein langer, langer Nachmittag – – und spät abends hörte ich endlich Signale, die mir sagten, daß das Militär in die Alserkaserne einrücke… und gegen 10 Uhr noch kam mein Aufseher und berichtete, er habe es ganz sicher erfahren: es ist alles ruhig abgelaufen und großartig soll’s gewesen sein!!

Früh konnte ich’s dann in der Zeitung lesen – denn bei jener ersten Maifeier haben unsere braven Setzer zwar kein Abendblatt gemacht, aber um 9 Uhr abends gingen sie das Morgenblatt setzen, das die frohe Botschaft brachte… auch mir in meine Zelle …

Dann aber wußte ich: eine Entscheidungsschlacht ist gewonnen, nun ist der Ausnahmszustand tot! Noch mehr: Nun ist das Proletariat Österreichs erwacht, es ist zum Bewußtsein seiner Kraft gekommen und steht am Beginn seiner Bahn, die zu gehen es keine Gewalt mehr hindern wird…

Und der zweite Mai war mein frohester Tag während jener ganzen Haft!

Victor Adler (letzte Reihe, 4. von links, neben Otto Glöckel und Leo Trotzki) als Delegierter am Kongress der Sozialistischen Internationale, Kopenhagen, September 1910. Im Vordergrund Emma Adler und Adelheid Popp (3. und 4. von rechts). (Foto: VGA)
Victor Adler (letzte Reihe, 4. von links, neben Otto Glöckel und Leo Trotzki) als Delegierter am Kongress der Sozialistischen Internationale, Kopenhagen, September 1910. Im Vordergrund Emma Adler und Adelheid Popp (3. und 4. von rechts). (Foto: VGA)