Vor 70 Jahren verschwand Österreich von der Landkarte. Die Ausschaltung der Linken durch die Austrofaschisten machte das Land wehrlos gegen Hitler.
Nachdem Italiens Mussolini seine schützende Hand vom austrofaschistischen „Ständestaat“ abgezogen hatte, glaubte Bundeskanzler und „Frontführer“ Kurt Schuschnigg 1936, durch Zugeständnisse an die illegalen Nazis Österreichs, seinem Regime eine Atempause verschaffen zu können. Die Nazis waren freilich damit nicht zufriedenzustellen. Im Jänner 1938 wurde ein „Aktionsprogramm“ aufgedeckt, das Terrorakte mit dem Ziel der Absetzung Schuschniggs vorsah. Zwar wurden die Putschplaner verhaftet, doch dann kam von Hitler eine offizielle Einladung für Schuschnigg auf seinen Berghof.
Hitler drohte mit Gewalt
Schuschnigg fuhr am 12. Februar 1938 nach Berchtesgaden. Hitler nutzte die psychische Verfassung seines „Gastes“, eines wenig volksverbundenen, von einer Mehrheit der Österreicher abgelehnten Politikers, zu einem Wechselbad von Einschüchterung und scheinbarem Entgegenkommen. Gespielt oder nicht, empfing er den Gesprächspartner mit Wutausbrüchen, in denen er diesem „Verrat am deutschen Volk“ vorwarf und den unverzüglichen Austritt Österreichs aus dem Völkerbund Verlangte. Und er drohte mit Gewalt: Ich brauche nur einen Befehl zu geben, und über Nacht ist der ganze lächerliche Spuk an der Grenze zerstoben . . . Vielleicht bin ich über Nacht auf einmal in Wien, wie der Frühlingssturm … „
Schließlich wurde Schuschnigg ein Papier vorgelegt, in dem die Berufung des NS-Vertrauensmanns Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister und die Amnestierung der politischen Häftlinge verlangt wurden. Sie kam dann nicht nur den Nationalsozialisten, sondern allen in den Kerkern und Anhaltelagern sitzenden Regimegegnern zugute.
Als Hitler dann ein paar Tage darauf in einer Rede – der ersten, die vom Österreichischen Radio .übertragen wurde – auf eine baldige “Befreiung“ der Deutschen in Österreich und in der Tschechoslowakei anspielte, sah sich Schuschnigg in seiner Hoffnung getäuscht, Österreichs Selbstständigkeit gesichert zu haben. Um in letzter Minute vor aller Welt den Willen Österreichs zur Unabhängigkeit zu bekunden, schlug er am 9. März 1938 die Abhaltung einer Volksbefragung “Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ vor. “Rot-Weiß-Rot bis in den Tod“ war die Losung. Die Volksbefragung sollte gleich am darauf folgenden Sonntag, also nach vier Tagen, stattfinden; so sollte eine Propagandaschlacht der Nazis verhindert werden.
Schuschnigg hatte in den Tagen zuvor Kontakte mit der jahrelang bekämpften illegalen Linken aufgenommen. Zum Unterschied zu großen Nazidemonstrationen in Graz hatte es in Wien bereits Proteststreiks gegen den „Verkauf an Hitler“ gegeben. Illegale Gewerkschafter drangen auf eine Vorsprache bei Schuschnigg; unter Führung von Friedrich Rillegeist verlangten sie als Voraussetzung für eine Zusammenarbeit die Wiederherstellung der Freiheitsrechte, eine freie Arbeiterpresse, Selbstbestimmung in den Arbeiterkammern, politische Betätigungsmöglichkeiten zumindest im gleichen Ausmaß wie die Nazis und Korrekturen in der Sozialpolitik. Schuschnigg sagte Verhandlungen zu.
Ausweg Volksabstimmung
Am 7. März fand – Schuschniggs einzig konkrete Zustimmung – in Floridsdorf eine große Vertrauensmännerkonferenz statt. Otto Leichter, bis 1934 Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“, charakterisierte die Stimmung dort so: „Die Arbeiter lehnten eine bedingungslose Unterstützung des Regimes, das sie niedergeworfen hatte, ab. Ein junger Arbeiter formulierte diese politische Linie mit den geradezu klassischen Worten: ‚Erst frei sein, dann kämpfen!’“ Unter den 350 Delegierten herrschte trotzdem Aufbruchsstimmung. Eine am 9. März einberufene Parteikonferenz der Revolutionären Sozialisten beschloss, ihren Anhängern ein ,,Ja“ zu Schuschniggs Volksbefragung zu empfehlen (wie auch die Kommunisten). „Der kommende Sonntag ist nicht der Tag, an dem wir mit dem Österreichischen Faschismus abrechnen … Am kommenden Sonntag manifestieren wir unseren glühenden Hass gegen den Hitlerfaschismus“, hieß es in dem RS-Aufruf.
Hitler tobte über Schuschniggs Überraschungscoup: „Das ist ein Bruch des Berchtesgadener Abkommens.“ Er erteilte der Wehrmacht die Weisung, sich für den Einmarsch in Österreich bereitzuhalten, „um dort verfassungsmäßige Zustände herzustellen und weitere Gewalttaten gegen die deutschgesinnte Bevölkerung zu unterbinden … „ Der Naziführer Odilo Globocnik mobilisierte die illegale SA und SS. Schuschnigg lehnte eine Zurücknahme der Volksbefragung zunächst ab. Er hoffte noch auf Hilfe des Auslands. Der einstige „Schutzherr“ Mussolini zeigte ihm die kalte Schulter, Frankreich steckte in einer Regierungskrise, England blieb zurückhaltend.
In Hitlers Auftrag beeilte sich Göring, die Einmarschdrohungen zu verschärfen. Er verlangte den Rücktritt Schuschniggs und die Bestellung des Nazi-Innenministers Seyß-Inquart zum Bundeskanzler. Schuschnigg hielt die Lage nun für hoffnungslos, Das Bundesheer erhielt den Befehl, sich im Falle eines Einmarsches der Deutschen „ohne Widerstand zurückzuziehen“.
Um 19.47 Uhr erklang Schuschniggs Stimme noch einmal im Radio. Er weiche der Gewalt, weil er nicht verantworten wolle, dass „deutsches Blut“ vergossen werde. „So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem Österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!“ Das waren die Worte, die von einem Teil der Österreicher mit Tränen, einem anderen mit Jubel und von vielen mit der Annahme aufgenommen wurden, es könne all das nach dem Elend im Ständestaat auch nicht mehr schlimmer werden.
Offene Grenzbalken
Bundespräsident Miklas war erst nach Stunden dazu bereit, Seyß-Inquart als Bundeskanzler anzugeloben – dieser blieb das nur einen Tag. Der Marschbefehl für die Wehrmacht wurde am 11. März um 20.45 Uhr ausgesprochen. Die Grenzbalken öffneten sich, es wurde kein Schuss abgegeben. Die Besetzung wandelte sich zum „Blumenfeldzug“.
Am nächsten Tag folgte Hitler seinen Soldaten. Die hysterische Begeisterung, die ihm auf seinem Weg von seinem Geburtsort Braunau am Inn über Linz nach Wien entgegenschlug, entschied seinen Entschluss zur sofortigen Annexion – zum „Anschluss“ – Österreichs. Er wurde in pathetischen Worten auf dem Wiener Heldenplatz verkündet. Die Bilder der Massen auf diesem Platz vor der Hofburg gingen um die Welt. In ihrem Schatten sammelte der noch vor Hitler in Wien eingetroffene SS-Chef Himmler unter den Vertretern des Regimes, aber auch unter Sozialisten und Kommunisten die ersten Häftlinge für den Transport ins Konzentrationslager Dachau. Und in Wien wurden hasserfüllte Demütigungen und Gewalttaten gegen die Juden zum Vorspiel für Vertreibung, Entrechtung und schließlich Vernichtung.
„Die Dollfußstraße führt zu Hitler“, hatte es Otto Bauer im Exil formuliert. Das austrofaschistische Regime hatte sich selbst der einzigen Kraft, mit der zusammen ein Volksaufgebot gegen Hitler Chancen gehabt hätte – der Sozialdemokratie – durch deren gewaltsame Ausschaltung beraubt.