Otto Bauer

Zur Person: Otto Bauer, geboren am 5.9.1881, wurde im Februar 1934 aus Österreich vertrieben, verstarb am 4.7.1938 in Paris, der zweiten Station seines Exils.

Oscar Pollak eröffnete seine Rede zur Gedenkfeier des 80. Geburtstages von Otto Bauer mit einer kleinen Episode: Er sei von einem berühmten amerikanischen Historiker gefragt worden, ob denn die Politik der SPÖ (und damit die Geschichte der Republik) einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn Bauer 1945 noch am Leben gewesen wäre. Die Antwort lautete: Nein. Die Geschichte, der Macht der „Tatsachen“ gehorchend, wäre nicht anders verlaufen – aber verstanden hätten wir sie besser.

Dies trifft präzise den Kern der Sache. Bauer war von der Eigengesetzlichkeit der Geschichte, von der „ehernen Macht der geschichtlichen Tatsachen“ zutiefst überzeugt. Aber wenn dann eines jener Ereignisse eintrat, das dem weiteren Gang der Geschichte eine ganz unerwartete Wendung gab, dann war er wie kein zweiter imstande, binnen kürzester Zeit Analysen von höchster Originalität vorzulegen. Schonungslos, nicht zuletzt gegenüber den eigenen Fehlern, verfasst mit dem kühl distanzierten Blick des Wissenschafters ebenso wie mit der Emotionalität des engagierten Parteimannes, zeichnen diese Studien die innere historische Logik solcher Ereignisse in unnachahmlicher Weise nach. Es sind Agitationsschriften von weder vorher noch nachher erreichtem Niveau, historische Rechtfertigungen und praktische Anleitungen für künftige Politik in einem. In diesem Sinn gehören seine „Nationalitätenfrage“, seine „Geschichte der österreichischen Revolution“, seine unter dem Titel „Der Kampf um Wald und Weide“ publizierten Studien zur Agrarfrage, seine Abhandlung zu Rationalisierung und Fehlrationalisierung zu den Klassikern der politischen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Bauers Sprache ist die des umfassend gebildeten Dialektikers: abwägend, prüfend, Argumente erörternd dort, wo es gilt, offene Fragen zu debattieren; affirmativ, klar, offen, selbst Wiederholungen nicht scheuend dort, wo es gilt, als richtig erkannte Standpunkte zu vertreten. Es ist die paradigmatische Sprache der Aufklärung, von hoher literarischer Qualität. Er war imstande, komplizierte und abstrakte Sachverhalte übersichtlich und nachvollziehbar darzustellen, ohne jemals ins Banale oder Vordergründige abzugleiten. Er konnte, wie Zeitzeugen und Weggefährten nicht müde wurden zu berichten, ganze Bücher druckreif aus dem Gedächtnis diktieren. Und dennoch: So fundiert Bauer in seinem Weltbild auch gewesen, so überzeugend er als führender Theoretiker des Austromarxismus auch aufgetreten sein mag, als praktischer Politiker blieb er, jedenfalls in entscheidenden Momenten, zögerlich und von eigentümlicher Unbestimmtheit. Wie überhaupt Widersprüche und Gegensätze die Person und die politische Figur Otto Bauer durchziehen. Wie alle Großen in einem hohen Maß uneitel, konnte er vor allem Intellektuellen gegenüber bis zur Grobheit abweisend sein und seine geistige Überlegenheit bis hin zur Arroganz ausspielen.

Den in seiner Partei organisierten Massen zollte er hingegen jeden Respekt und als hinreißender Redner konnte er über sich hinauswachsen. Er war ein überzeugter Internationalist und dennoch blieb er zugleich deutschnational. Sein Deutschnationalismus verstand sich in der Tradition der 1848er-Revolution, als republikanisch und demokratisch; und wenn er als erster Außenminister der Republik den Anschluss an ein demokratisches Deutschland anstrebte, so wurde eben auch auf sein Betreiben der Anschlussparagraph nach Hitlers Machtübernahme 1933 aus dem sozialdemokratischen Parteiprogramm gestrichen. Er galt gemeinhin als Theoretiker und hat dennoch mehr Artikel über die Fragen des praktischen Lebens der arbeitenden Menschen geschrieben als irgendwer sonst in seiner Partei. Er entstammte einem assimilierten, jüdischen Großbürgermilieu und hat doch in seinem theoretischen Werk den Antisemitismus, den er als billigen Populismus und „Zeiterscheinung“ abtat, bestenfalls in Ansätzen thematisiert.

Bauers Werk steht (wenn man von seinem langjährigen innerparteilichen Gegenspieler Karl Renner absieht) gigantengleich über dem seiner Zeitgenossen. Im Alter von zehn Jahren verfasst er, in klassischem Versmaß und als „Weihnachtsgabe“ für seine Eltern, ein Drama über Napoleons Ende. Mit 26 Jahren bekleidet der promovierte Staatswissenschafter den Posten eines sozialdemokratischen Klubsekretärs, und steigt mit seiner Nationalitätenstudie in die erste Reihe der Theoretiker der Sozialistischen Internationale auf. In der sibirischen Kriegsgefangenschaft schreibt der Oberleutnant der k. u. k. Armee ohne jegliche Sekundärliteratur sein wohl anspruchsvollstes Buch, „Weltbild des Kapitalismus“. Sein im Exil verfasstes Spätwerk „Zwischen zwei Weltkriegen?“ wird in den 1970er Jahren zur theoretischen Grundlage eines neu formulierten, reformistischen dritten Weges. Die Wiederkehr des Nationalen im Gefolge der Sanften Revolutionen in Mittel- und Südosteuropa in den späten 1980er Jahren löst Übersetzungen seiner Nationalitätenfrage in alle Weltsprachen und eine weltweite Debatte seiner Thesen zur nationalen Frage aus.

Otto Bauer Rede zur Weltwirtschaftskirse 1929: https://youtu.be/69XJe6astKM

Otto Bauer Portrait
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