Austromarxismus

Der Austromarxismus ist eine eigenständige Schule des Marxismus, die das Theoriegebäude der österreichischen Sozialdemokratie bildete. Um 1900 wurde er von Otto Bauer, Rudolf Hilferding, Max Adler, Friedrich Adler, Gustav Eckstein, Friedrich Adler und Karl Renner entwickelt.

Die Wiener Gesellschaft neu denken

Der Begriff an sich wurde um 1907 von dem in die USA ausgewanderten ukrainisch-jüdischen Sozialisten Louis B. Boudin (1874–1952) geprägt, der damit „österreichische Marxisten“ ins Englische übersetzte. Als Selbstbezeichnung in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war er wenig in Gebrauch. Die politischen Gegner nutzten den Begriff jedoch oft und gerne. Vom katholischen Klerus wurde der Austromarxismus als „Antichrist des zwanzigsten Jahrhunderts“ (1924) und von kommunistischer Seite als „die Theorie der Anpassung an jede Schweinerei“ (1919) denunziert. Junge Sozialdemokraten in Debattierzirkeln rund um die „Freie Vereinigung sozialistischer Studenten“ versuchten sich im rückschrittlich empfundenen Wien des Fin de Siècle als „spätaufklärerische“ wissenschaftliche Schule der politisch-gesellschaftlichen Erneuerung zu etablieren. In dieser wurden Philosophie, Nationalökonomie, Naturwissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft genauso wie Pädagogik, Ethik und Kunsttheorie „marxistisch“ neu gedacht. Zwei Zeitschriften bildeten den Kern der intellektuellen Debatte: die von Max Adler (1873–1937) und Rudolf Hilferding (1877–1941) von 1904 bis 1923 herausgegebenen „Marx-Studien“ und die von Otto Bauer (1881–1938), Adolf Braun (1862–1929) und Karl Renner (1870–1950) im Jahr 1907 ins Leben gerufene Monatsschrift „Der Kampf“, die bis 1934 erschien.

Zentrale Werke der Austromarxisten (Quelle: Privatsammlung)

„Karl Marx hat das Geheimnis unserer Arbeit enthüllt. Durch ihn ist die versteckte, verschleierte Ausbeutung so sichtbar geworden wie der Goldfisch im Teich, wenn diesen die Sonne durchleuchtet […]“

Karl Renner, 1902

Die klare Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge

Zentrales Element des Austromarxismus war die Annahme, dass das gesamte politische, geistige und kulturelle Leben einer Gesellschaft durch ökonomische Strukturen und Verhältnisse bestimmt werde. Gegensätze und Konflikte in der Gesellschaft seien darauf zurückzuführen. Die dadurch geschaffenen Macht- und Lebensverhältnisse könne man durch Analyse und Bewusstmachung dieser gesellschaftlichen Widersprüche verstehen und durch politische Reform überwinden. Diese „rationalistische“ und säkulare Vorstellung eines „wissenschaftlichen Weltbildes“ stand im krassen Gegensatz zum herrschenden ständisch-christlichen und völkisch-biologistischen bürgerlichen Mainstream. Dieser sah die gesellschaftlichen Verhältnisse eben nicht durch ökonomische Interessen und politische Konflikte gemacht, sondern als göttliche Ordnung oder „natürliche Volksgemeinschaft“ vorgegeben und nicht hinterfragbar.

Obwohl sich der Austromarxismus als wissenschaftlich verstand, fand er und seine Vertreter:innen kaum Platz an den Universitäten. Antimarxismus und Antisemitismus waren an den Hochschulen vorherrschende Ideologie und weitverbreitete Praxis der Diskriminierung und Gewalt. Als Besonderheit ist zu betonen, dass die meisten Begründer des Austromarxismus ihr Studium der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels erst begannen, als sie ihre wissenschaftlichen Persönlichkeiten und politischen Grundorientierungen bereits ausgebildet hatten. Das führte dazu, dass die Erkenntnistheorie Immanuel Kants (1724–1804) über die Grundlagen des menschlichen Erkennens ein starker Bezugspunkt war und somit auch deren philosophische Modernisierung in Gestalt des Neukantianismus in den 1850er Jahren. Gerade dieser hatte das starke Interesse entwickelt, politischer Theorie auch eine philosophische Begründung zu geben. Ebenfalls der Physiker-Philosoph Ernst Mach (1838–1916) wurde mit seiner radikalen konstruktivistischen Position und auf strenger Wissenschaftlichkeit fußenden Weltsicht, dass nur die Wissenschaften angemessene Erklärungen und Beschreibungen der Welt formulieren können, wirkmächtig im Austromarxismus. Auf dem Feld der Ökonomie war die kritische Auseinandersetzung mit der Österreichischen Schule der Nationalökonomie in Gestalt der Grenznutzentheoretiker Eugen von Böhm-Bawerk (1851–1914) und Friedrich von Wieser (1851–1926) von theoriebildender Bedeutung.

„Nicht die Köpfe einschlagen, die Köpfe gewinnen!

Otto Bauer, 1923

Praktische Theorie und theoretisierende Praxis

Der Austromarxismus entfaltete eine weit über Österreich hinausgehende Strahlkraft, weil er „die Kunst das Unvereinbare zu verbinden“ (Siegfried Mattl, 1986) beherrschte: Er war in der Lage, die intellektuellen Debatten seiner Zeit wirkmächtig zu führen, wie er an die Orientierungsbedürfnisse einfacher Arbeiter:innen appellieren und die praktische Realpolitik anleiten konnte. Im Austromarxismus bedeute das „revolutionäre“ Selbstverständnis im Kern den Glauben daran, dass durch kollektive Bildung, organisatorische Disziplin und politische Reform zur Verbesserung der Lebensverhältnisse die Staatsmacht demokratisch erobert werden könne. Diese im Endeffekt jedoch durch und durch evolutionäre Vorstellung war getragen von der Überzeugung, die Macht des Proletariats würde geschichtlich unumgänglich durch die Widersprüche, die der Kapitalismus produziert, ständig wachsen. Bis zu den Februarkämpfen 1934 sahen alle maßgeblichen Kräfte der Sozialdemokratie in der demokratischen Staatsform das einzig legitime Werkzeug zur Durchsetzung des „Sozialismus“.

Im Austromarxismus waren die Vorstellungen vom „Sozialismus“ uneinheitlich. Grundsätzlich galt er jedoch als die Lösung des Widerspruchs zwischen formalrechtlicher politischer Gleichberechtigung und durch ökonomische Ungleichheit bedingte (Klassen-)Herrschaftsverhältnisse. Otto Bauer beschrieb das Ziel als die „Selbstbestimmung des Volkes in seinem Arbeits- und Wirtschaftsprozess“ und dies in einem Staat mit einer vom „Volk in Freiheit“ (1931) gewählten Regierung. Karl Renner zeichnete sein Bild vom Sozialismus als Herstellung eines gesellschaftlichen Zustands, in dem „Pflicht und Recht sowie Mitbestimmung und Mitgenuss“ (1929) gleich verteilt seien.

Der Austromarxismus verknüpfte alle fortschrittlichen Ideen seiner Zeit und befeuerte eine innovative intellektuelle Debatte genauso wie er Inspiration und Hoffnung bei einfachen Arbeiter:innen entfachte. Er hatte für alles eine eigene Theorie, auch wenn sie nur die politische Praxis der SDAP legitimieren sollte. Politisches Engagement erschien vielen in diesem Rahmen sinnvoll, da es die persönlichen Lebensbedingungen und die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse als veränderbar und somit verbesserungsfähig erscheinen ließ. Sozialdemokratisches Engagement war eine Form der neugewonnenen persönlichen Autonomie bisher Unterdrückter, Randständiger und Ohnmächtiger. Außerdem hing der Austromarxismus der Vorstellung an, dass „der Mensch“ bereits vor aller Vergesellschaftung ein soziales Wesen sei.

Diese unerschütterlich humanistische Sichtweise auf Menschen und Gesellschaft hat uns heute noch etwas zu sagen, auch wenn vieles des Austromarxismus zeitgebunden war und sich manches als historischer Irrtum erwies. Er hinterließ uns jedoch viele bis heute spannende politische Texte, die uns zeigen, welche Energien und Hoffnungen die Moderne erweckte und auch enttäuschte. Vor allem bleibt der Austromarxismus jedoch ein österreichischer Versuch der demokratischen Weltverbesserung. Diese hält für das 21. Jahrhundert die brisante Botschaft bereit, dass alles Politische in Widersprüchen und Machtverhältnissen zu denken ist. Die einen seien immer wieder zu lösen und die anderen ständig im Sinne von Freiheit und Gleichheit zu verändern; das ist die Aufgabe der Politik.

Autor: Michael Rosecker, Karl-Renner-Institut

Literatur: Arbeiterwille, 12.4.1924 // Die Rote Fahne, 12.12.1919 // Otto Bauer: Die Zukunft der russischen Sozialdemokratie, 1931 // Christoph Butterwege: Austromarxismus und Staat. Politiktheorie und Praxis der österreichischen Sozialdemokratie zwischen den beiden Weltkriegen, Marburg 1991 //Ernst Glaser: Im Umfeld des Austromarxismus, Wien-München-Zürich, 1981 // Norbert Leser: Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus in Theorie und Praxis, Wien 1968 // Raimund Löw/Siegfried Mattl/Alfred Pfabigan (Hg.): Der Austromarxismus. Eine Autopsie. Drei Studien, Frankfurt/Main 1986 // O. W. Payer (= Karl Renner): Mehrarbeit und Mehrwert, 1902 // Karl Renner: Die Menschenrechte. Vortrag in der Österreichischen Liga für Menschenrechte, 1929.

Denker des Austromarxismus (Quelle: Quelle: Renner-Museum, VGA, ÖNB)