Beim Aufbegehren der Massen im September 1911 ging es vor allem um den Protest gegen soziales Elend – aber auch um mehr.
Es war der 11. September 1911, als seit den frühen Morgenstunden an die 100.000 Menschen von den verschiedensten Bezirken auf den Rathausplatz und vor das Parlament in Wien gezogen waren. Rote Fahnen und Transparente mit Aufschriften wie „Nieder mit den Fleischwucherern“ oder „Die Grenzen auf“ säumten die Wege. Die sozialdemokratische Partei hatte an diesem Tag zu einer Massendemonstration gegen die herrschende Teuerung aufgerufen. Im Gegensatz zu ihrer sonstigen Praxis aber hatte die Arbeiterpartei keinen Ordnerdienst aufgeboten sowie keinerlei Auf- und Abmarschrouten vorgegeben.
Als gegen 11 Uhr die Kundgebung endete und der Abmarsch der Demonstranten begann, befanden sich noch einige tausend Menschen auf dem Rathausplatz, „eine ungeheure ziel- und planlos zwischen den vielen Polizei- und Militärkordons hin und her wirbelnde Masse“, zum überwiegenden Teil zusammengesetzt aus „jenen verantwortungslosen jungen Leute(n), die keiner Parole gehorchen“ weiß die Arbeiter-Zeitung sieben Tage später zu berichten. Laut Polizeibericht sind diese jugendlichen Demonstranten vorwiegend Halbwüchsige aus dem Arbeiterbezirk Ottakring.
Die aufgestaute Wut entlädt sich plötzlich
Ein plötzlicher lauter Knall – ein Jugendlicher hatte einen Revolverschuss in die Luft abgefeuert – lässt die Masse zu toben beginnen; die Wut war entfacht, der erste Stein flog gegen das Rathaus, der Auftakt zu einem wahren Steinbombardement. Bis in den ersten Stock blieb kein Fenster ganz; ebenso wurde der Justizpalast beschossen. Erst nach höchst mühevollen Auseinandersetzungen, so der Polizeibericht, gelang es den Sicherheitskräften, die Demonstranten auseinander zu treiben und sie gegen die Bezirke Neubau und Josefstadt abzudrängen.
Auf dem Gürtel und in der Panikengasse brannten umgeworfene Straßenbahnwaggons, an der Kreuzung Thaliastraße und Lerchenfelder Gürtel war eine erste Barrikade errichtet worden.
Auf dem Gürtel und in der Panikengasse brannten umgeworfene Straßenbahnwaggons, an der Kreuzung Thaliastraße und Lerchenfelder Gürtel war eine erste Barrikade errichtet worden.
Nun zog die Menge durch die Lerchenfelder Straße und Burggasse stadtauswärts. Mehrere Gruppen schlugen in Häusern und Geschäften Fenster ein, zertrümmerten Gaslaternen, verwüsteten das Café Brillantengrund, griffen das Amtshaus des 8. Bezirks in der Schmidgasse an, und eröffneten gegen die vorrückenden Wachmannschaften wahre Steinhagel. Auf der ganzen Lerchenfelderstraße bis hinauf zum Gürtel blieb keine Straßenlaterne, keine größere Auslagenscheibe von der scheinbar sinnlosen Wut der durch die permanenten Polizeiattacken höchst erregten Menge verschont. Es kam zu ersten Plünderungen und spätestens zu diesem Zeitpunkt beteiligte sich auch das sog. „Lumpenproletariat“, die „Ottakringer Elendsjugend“, jene – wie es die Arbeiter-Zeitung formuliert – „ganz junge(n) und unverantwortliche(n) Leute, die niemand kannte und niemand gerufen hatte“; mit den Worten der Neuen Freien Presse: der „bekannte Troß einer Großstadt“. So waren vom Gürtel her (also aus entgegengesetzter Richtung) in der Wimbergergasse plötzlich rund zehn 14- bis 15-jährige Burschen aufgetaucht, die bis in die Höhe des zweiten Stockwerks Fenster einwarfen. Sobald der eigentliche Zug der Demonstranten näher kam, waren sie so schnell, wie sie aufgetaucht waren, wieder verschwunden.
Die „Kinder der steinbesäten Schmelz“ machen Revolte in Ottakring
Der eigentliche Schauplatz dieser Revolte der Straße aber sollte dann das damals als „Neu-Ottakring“ bezeichnete Viertel sein, wobei die aufständische Menge ihren Zuzug von der angrenzende Schmelz, eine riesige „G’stetten“, erhielt. Auf dem Gürtel und in der Panikengasse brannten umgeworfene Straßenbahnwaggons, an der Kreuzung Thaliastraße und Lerchenfelder Gürtel war eine erste Barrikade errichtet worden und die ganze Thaliastraße entlang wurden Stacheldrahtzäune gespannt. Polizei und Militärassistenz scheiterten letztendlich an ihrer Ortsunkenntnis und die Straßenräumungen zeitigten nur vorübergehenden Erfolg.
Es waren die „Kinder der steinbesäten Schmelz“, überwiegend 12- bis 14-Jährige, die sich in einen „Rausch der Zerstörung“ steigerten. Zur Seite traten der Straßenjugend die Frauen und Mütter, zu denen, wie die Arbeiter-Zeitung beklagte, „die Aufklärung so schwer kommen kann“, die sich vom Schauspiel mitreißen ließen und in ihren Schürzen den Jungen die Steine zutrugen. In der Tagespresse ist von „Knabenrevolution“, einer „Bubenschlacht“ oder einer „Revolte der Ottakringer Jugend“ zu lesen.
Sturm auf Schulen, alles „Papierene“ brennt, zwei Menschen sterben
Der Sturm richtete sich gegen die Realschule am Habsburgplatz, gegen die Impfstoffgewinnungsanstalt in der Possingergasse, gegen die Volksschulen am Hofferplatz und in der Koppstraße. Kataloge, Bücher, Hefte, alles „Papierene“ wurde zerstört, auf die Straße geworfen und angezündet, die anrückende Feuerwehr am Eingreifen gehindert. Die Realschule Thalhaimergasse ebenso wie die Impfstoffgewinnungsanstalt waren in Brand gesteckt worden. Der 20-jährige Franz Joachimsthaler stirbt an einem Bauchschuss, der 19-jährige Otto Brötzenberger, der sich in das Ottakringer Arbeiterheim zu retten versuchte, erliegt einem Bruststich. Erst gegen zehn Uhr abends, als Ottakring in völliger Dunkelheit lag, brachten Polizei und Militär die Lage unter Kontrolle.
Verelendung der Zuwanderung ähnlich den Pariser Vorstädten
Die „Hungerrevolte“ geht über ein „bloßes“ Aufbegehren gegen Nahrungsmittelknappheit, Mietzinserhöhung und soziales Elend allerdings weit hinaus. Die Angriffe auf Schriftgut und die Zerstörungsgewalt gegen nicht weniger als zehn Volks- und Bürgerschulen verweisen vor allem auf kulturelle Differenzen: Die vernachlässigten vorstädtischen Massen setzten sich nicht nur aus den „immer schon hier gewesenen“ urbanen Unterschichten zusammen, sondern aus erst jüngst zugewanderten Migrantinnen und Migranten, deren Sehnsüchte nach einem besseren Leben in der Stadt an den Realitäten von Arbeit und Konsum zu zerbrechen drohten. Sie hatten ihre meist ländlich-vormodern geprägten Herkunftskulturen hinter sich gelassen, um in der Metropole neue Lebensperspektiven zu finden und zu entfalten.
Aber an den äußersten Rand gedrängt, sollten sie sich zunächst keine neue Heimat schaffen, sondern sich vielmehr in Verelendung und Entfremdung wieder finden.
In der Zerstörung von Schrift- und Kulturgut artikuliert sich auch ein – wenn auch aussichtsloser – Angriff auf die symbolische Ordnung der Moderne, auf die modernen Stadt mit ihrem bürgerlichen Rationalismus, deren Teil sie nicht werden konnten.