Seit 90 Jahren dürfen auch die Frauen in Österreich an die Wahlurnen.
Eine historische Betrachtung von Manfred Scheuch. In „Österreich Magazin“, Ausgabe 1/2009
Das in der Monarchie von der Arbeiterbewegung endlich erzwungene allgemeine gleiche Wahlrecht für den Reichsrat war insofern nicht „allgemein“ und „gleich“, als es die Hälfte der Staatsbürger ausschloss: Frauen waren nicht wahlberechtigt. Die Frauenbewegung, sowohl die bürgerliche als auch die proletarische, forderte schon seit dem späten 19. Jahrhundert die Gleichberechtigung bei den Wahlen. Am 28. April 1917 stand der Sozialdemokratische Frauentag unter der Devise: „Frieden und Frauenwahlrecht“. In der Folge stellten die Sozialdemokraten noch im gleichen Jahr im Wiener Gemeinderat Anträge in dieser Richtung. Nach Gründung der Republik richteten die Frauenvereine gemeinsam eine Petition an die Nationalversammlung, der Ausgrenzung der Frauen vom Wahlrecht ein Ende zu bereiten. Am 12. November 1918 war es so weit: Die Zuerkennung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle volljährigen Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts wurde Gesetz.
Sieg der Sozialdemokraten
Für 16. Februar 1919 wurden Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung Deutschösterreichs abgehalten. Nun durften erstmals auch Frauen kandidieren und wählen. Das Ergebnis brachte den Sozialdemokraten als stärkster Partei 72 Mandate, die Christlichsozialen erhielten 69 und die Deutschnationalen 26 Sitze; je ein Mandat fiel an Tschechen, Jüdischnationale und Bürgerliche Demokraten. Noch waren die drei Präsidenten der Nationalversammlung Männer: Karl Seitz der Erste, der christlichsoziale Prälat Johann Hauser der Zweite und der Deutschnationale Franz Dinghofer der Dritte Präsident. Auf die Wahl fiel allerdings auch ein Schatten: Die Beteiligung der deutschen Bewohner von Böhmen und Mähren, deren Vertreter ja noch österreichische Abgeordnete waren, wurde vom tschechischen Militär blutig unterdrückt. Auch kam es in den Folgewochen in Wien zu gewaltsamen Versuchen der Kommunisten (die keinen Abgeordneten gewonnen hatten), die Demokratie in eine Räterepublik nach dem Vorbild Béla Kuns in Ungarn umzuwandeln. Am 18. April, dem Gründonnerstag, versuchten Demonstranten, das Parlamentsgebäude anzuzünden. Volkswehr (das republikanische Militär) und Polizei wehrten den Angriff ab; es gab mehrere Tote und zahlreiche Verletzte. Auch ein kommunistischer Putschversuch, bei dem es am 15. Juni zu einem Straßenkampf in der Wiener Hörlgasse kam, blieb ohne Erfolg. Wesentlich für den Fehlschlag dieser Umsturzversuche war die Rolle Friedrich Adlers (des Sohnes des verstorbenen Einigers der Partei Victor Adler), der in den Arbeiter- und Soldatenräten das Eintreten der Mehrheit für die demokratische Republik durchsetzen konnte.
Koalition zerbricht
Die junge Republik war zunächst, wie Otto Bauer feststellte, „die parlamentarische Form der politischen Demokratie in schärfster Ausprägung“. In der Parlamentsherrschaft war der Präsident der Nationalversammlung das Staatsoberhaupt, sie wählte die Regierung und verfügte über das Heer. So wurde Karl Renner, wie schon bei der Ausrufung der Republik, zum zweiten Mal mit der Funktion des Staatskanzlers betraut. Den bürgerlichen Parteien, insbesondere den Christlichsozialen, behagte diese aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangene Form der Regierung nicht. Sie drängten auf eine zweite, gleichberechtigte Kammer, den Bundesrat. Zwar wurde ihr Wunsch, dort jedem Bundesland – ohne Rücksicht auf die Bevölkerungszahl – die gleiche Zahl von Bundesräten zuzugestehen, nicht erfüllt. Hingegen konnten sie die Einsetzung eines mit Sonderfunktionen ausgestatteten Bundespräsidenten durchsetzen. Im Juni 1920 zerbrach die Koalition mit den Christlichsozialen; schicksalhaft für die Republik wurde nach Neuwahlen die Ablehnung der Sozialdemokratie, als „Zweite“ in eine Koalition einzutreten. Als Opposition blieb sie fortan, bis zur Auflösung des Parlaments durch Dollfuß, von der Regierungsmacht ausgeschlossen.
1. Demokratische Wahl
Die Haupt- und Residenzstadt Wien war in der Monarchie Teil des Kronlandes Niederösterreich gewesen. Die Stadt Wien war in wichtigen Fragen von der Zustimmung des Niederösterreichischen Landtages abhängig. Schon 1919 begann die Diskussion über Änderungen dieses Zustandes. Am 4. Mai 1919 wurde der Gemeinderat zum ersten Mal demokratisch gewählt. Das Ergebnis brachte einen überwältigenden Sieg der Sozialdemokraten. Von den 165 Mandaten errangen sie 100, die Christlichsozialen nur 50, den Rest kleinere Parteien. Ein neues Magistratssystem mit gewählten amtsführenden Stadträten wurde ausgearbeitet. Finanzstadtrat Hugo Breitner schuf ein kommunales Steuerrecht. Jakob Reumann wurde der erste demokratisch gewählte Bürgermeister. Schließlich erfolgte die verfassungsmäßige Trennung Wiens von Niederösterreich: Mit 1. Jänner 1922 war Wien eigenes Bundesland.