Im Leithagasthaus im damals ungarischen Neudörfl [Lajtaszentmiklós] kamen am 5. und 6. April 1874 trotz behördlicher Schikane 74 Vertrauensmänner der Arbeitervereine aus vielen Kronländern der Donaumonarchie zu einer Delegiertenkonferenz zusammen. Sie gründeten die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich“ und beschlossen ein Parteiprogramm
Ein gesamtgesellschaftlicher Umbruch
In den 1860er-Jahren erreichte die Industrialisierung ein Ausmaß, das den Industriekapitalismus zum Fundament der Volkswirtschaft machte. Die Lohnarbeit war schrittweise zum zentralen Element der Produktion geworden. Die Hauptlast des Jahrzehnte dauernden Transformationsprozesses der Industrialisierung trugen vor allem unterschiedliche handarbeitende und randständige soziale Gruppen wie landwirtschaftliches Gesinde, Taglöhner:innen in Stadt und Land, Dienstbot:innen, besitzlose und besitzarme Männer, Frauen und Kinder sowie Handwerker und Heimarbeiter:innen. Diese sehr differenzierte und diverse Masse an Arbeitskräften sollte die Basis für die Entstehung der sozialdemokratischen Arbeiter:innenbewegung werden. Um diese neuen Gruppen rechtloser Lohnabhängiger organisieren und politisch mobilisieren zu können, stand am Anfang der Kampf um ein liberales Vereinsgesetz. Dieses wurde schließlich im Rahmen der Dezemberverfassung 1867 gewährt. Unmittelbar danach entstanden in den meisten Industriezentren der Habsburgermonarchie unzählige „Arbeiter-Vereine“, sowohl als Bildungs-, Spar-, Konsum-, Krankenkassen- als auch als Gewerkschaftsvereine. Diese an sich „unpolitischen“ Vereine politisierten sich binnen kürzester Zeit. Es wurde begonnen, lokale „Arbeiter-Zeitungen“ herauszubringen und ab 1870 dezidiert „politische“ Vereine zu gründen, die Namen wie „Freiheit“, „Brüderlichkeit“ oder „Gleichheit“ trugen.
Frauen und die Industrialisierung
Frauen waren von den Umbrüchen der Industrialisierung selbstverständlich genauso betroffen wie Männer. Zu den Nöten der Umformatierung der Arbeitswelt und dem damit verbundenen Elend kamen Mehrfachbelastungen als Mütter, weitgehende Rechtlosigkeit als Frauen und sexualisierte Gewalt in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen hinzu. Die emanzipatorischen Potenziale der Modernisierung blieben Arbeiterinnen weitreichender und vielfältiger vorenthalten als Arbeitern. Dazu zählte in diesem beschriebenen Zeitraum auch die Eroberung des öffentlichen politischen Raumes. Der Ausschluss der Frauen aus der politischen Öffentlichkeit spiegelte sich allein darin wider, dass Frauen als Person keine Staatsbürgerschaft besaßen und Frauen auch mit dem „liberalen“ Vereinsgesetz die Mitgliedschaft in politischen Vereinen untersagt blieb. Die Arbeitervereine dieser Tage waren somit exklusive Männergesellschaften. Um 1870 gab es einige wenige Arbeiterinnenbildungsvereine in Wien, Graz und Brünn. In Neudörfl wurden aufgrund der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Gesamtsituation und des Verschwindens der wenigen Arbeiterinnenvereine keine Frauen delegiert.
„Wenn große Teile der Welt um 1910 anders aussahen als 1780, dann war die wichtigste Ursache dieser physischen Verwandlung des Planeten die Industrie.“
Jürgen Osterhammel, 2009
Vereine zwischen Aufbruch, Verfolgung und Richtungsstreit
Als in den 1860er-Jahren die „Arbeiter-Frage“ zentraler Teil der politischen Debatte wurde, versuchten zum einen die katholische Kirche und zum anderen der politische Liberalismus im Geiste der Revolution 1848 Einfluss auf „die Arbeiter“ zu erlangen. Für die Liberalen sollten Bildung und die Einrahmung durch bürgerliche Politik die „Arbeiterschaft“ zügeln und an den materiellen „Segnungen“ des Kapitalismus teilhaben lassen. Die „Selbsthilfe“-Bewegung des deutschen Nationalliberalen Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) sollte die männliche Arbeiterschaft organisieren und anleiten. Vornehmlich kleine Handwerker und Facharbeiter sollten durch gerechten Lohn und gemeinsame Kapitalbeschaffung, Konsum-, Kranken- und Altersvorsorgevereine Teil der neuen Wirtschaftsordnung werden. Ebenso bedeutend wurden die Thesen des deutschen Journalisten und Arbeiterführers Ferdinand Lassalle (1825–1864), der maßgeblich für die Organisation der deutschen Sozialdemokratie verantwortlich zeichnete. Er vertrat die sogenannte „Staatshilfe“: Durch Erlangung des allgemeinen gleichen Wahlrechts sollte die Macht im Staat errungen werden, um dann im Sinne des Proletariats die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Dafür brauche es eine eigenständige „Arbeiterpartei“. Ebenso gewannen die Vorstellungen der Internationalen Arbeiter-Assoziation (I. Internationale) unter Führung von Karl Marx (1818–1883) ideologischen Einfluss auf Teile der jungen Vereine.
Entlang dieser politischen Orientierungen bauten sich massive Richtungsstreitigkeiten auf. Der Streit zwischen Selbst- und Staatshilfe war zentral. Daran haftete auch die Auseinandersetzung, ob man Teil des Liberalismus oder eine selbstständige „Arbeiterpartei“ sein solle. Gerade im österreichischen Vielvölkerreich entbrannte die weitreichende Debatte, ob man sich national nur für das deutsche oder international vor allem auch für das große tschechische Proletariat zuständig fühle. Ebenso intensiv wurde über die politischen Mittel zur Erreichung der Ziele gestritten: reformistisch versus revolutionär. Maßgebliche Streitparteien waren u. a. der „radikale“ international-zentralistische Verein „Gleichheit“ in Wiener Neustadt rund um den Wiener Handwerker Andreas Scheu (1844–1927), der „gemäßigte“ deutschnational-zentralistische Verein „Volksstimme“ um den hessischen Journalisten Heinrich Oberwinder (1845–1914) in Wien und der radikale sezessionistische Wiener Verein „Brüderlichkeit“ um den Sozialethiker Emil Kaler-Reinthal (1850–1897). Die vielen Richtungsstreitigkeiten wurden von einer wachsenden behördlichen Verfolgung begleitet. Hochverratsprozesse und Vereinsauflösungen waren die Folge.
Der steinige Weg nach Neudörfl
Um die inneren Spaltungen der Bewegung und die wachsende behördliche Verfolgung meistern zu können, sollte eine Delegiertenkonferenz einberufen werden. Grazer Funktionäre, allen voran der Historiker und Journalist Hippolyt Tauschinsky (1839–1905), übernahmen die Organisation des Kongresses. Schließlich wurde nach Baden bei Wien zu einer „vertraulichen Besprechung“ eingeladen. Mit der Formulierung wollte man laut Vereinsgesetz die Notwendigkeit einer behördlichen Genehmigung umgehen. Die im Vorfeld in den „Arbeiter-Vereinen“ in den Industriezentren durchgeführten regionalen Konferenzen wurden jedoch ruchbar und dem Innenministerium gemeldet. In Folge wurde das Treffen in Baden behördlich untersagt. Nach hektischer Umleitung der Delegierten ins ungarische Neudörfl erschienen am 5. April sechsundachtzig Delegierte. Von denen blieben nach der Abklärung der ordentlichen Delegation durch die Vereine vierundsiebzig Stimmberechtigte über.
Die Debatten und das Programm
Die aus Niederösterreich, Wien, Oberösterreich, der Steiermark, Kärnten, Böhmen, Mähren und Ungarn kommenden Delegierten repräsentierten 25.000 Arbeiter. Der Kongress war zunächst von der Überwindung der Fraktionsstreitigkeiten und vom Ausgleich zwischen deutsch- und tschechischsprachigen Delegierten geprägt. So wurden im Laufe des Kongresses das Zentralkomitee der neuen Partei in Graz angesiedelt und für die deutschsprachigen Vereine die Wiener Neustädter „Gleichheit“, für die tschechischsprachigen die Prager „Dělnické listy“ („Arbeiterblätter“) und für die ungarischen die deutschsprachige „Arbeiter-Wochen-Chronik“ in Pest zum Zentralorgan bestimmt.
Der eigentliche Höhepunkt war die Beschlussfassung eines Parteiprogramms, welches mit 69 gegen 5 Stimmen angenommen wurde: „Die österreichische Arbeiterpartei erstrebt im Anschluß an die Arbeiterbewegung aller Länder die Befreiung des arbeitenden Volkes von der Lohnarbeit und der Klassenherrschaft durch Abschaffung der modernen kapitalistischen Produktionsweise […]. In nationaler Beziehung stellt sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz auf […], erblickt jedoch […] nur in einem brüderlichen Zusammenwirken, welches alle nationalen Arbeiterschaften gleich berechtigt und gleich verpflichtet, die einzige Bürgschaft eines Erfolges.“ Weiters folgte ein Forderungskatalog (Auszug):
- Allgemeines, gleiches, direktes Wahlrecht für alle Staatsbürger vom 20. Lebensjahr an, für das Parlament, die Landtage und die Gemeindevertretungen […].
- Vollständige Presse-, Vereins-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit.
- Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche.
- Obligatorischer Unterricht in den Volksschulen und unentgeltlicher Unterricht in allen öffentlichen Lehranstalten.
- Errichtung der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.
- Unabhängigkeit der Richter, Wahl der Richter durch das Volk.
- Einführung eines Normalarbeitstages [= eine gesetzliche Regelung der Maximalarbeitszeit, Anm. Autor], Einschränkung der Frauen- und Abschaffung der Kinderarbeit
- Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer einzigen, direkten, progressiven Einkommens- und Erbschaftssteuer.
- Staatliche Förderung des freien Genossenschaftswesens und staatliche Kredite für freie Arbeiter- und Produktionsgenossenschaften.
„Als der von den vorgenannten 74 Vertrauensmännern einstimmig gewählte Präsident des ersten österreichischen Arbeiter-Delegiertentages sehe ich mich daher verpflichtet, gegen die Verdächtigung geheimbündlerischer Tendenzen im Namen der Partei sofort und energisch Protest einzulegen.“
Hippolyt Tauschinski, 1874
Eine Konferenz mit weitreichenden Folgen
Diesem programmatischen Endergebnis folgten heftige Reaktionen der Behörden. Die Bezeichnung „sozialdemokratisch“ wurde im Programm selbst tunlichst vermieden, um einem Verbot zu entgehen. Dennoch erfasste eine Welle der Vereinsverbote die Arbeiter:innenbewegung. Das Programm wurde schließlich im Mai 1874 als „staatsgefährlich“ erklärt. Die Behörden störte vor allem die angestrebte Ausdehnung der Wirksamkeit über ganz Österreich-Ungarn. Weiters wurden laufend politische Führungspersönlichkeiten verhaftet und wegen „geheimer sozialdemokratischer Verbindungen“ bzw. „Hochverrats“ vor Gericht gestellt. Die materiellen Auswirkungen der Wirtschaftskrise durch den Börsenkrach 1873 waren für die Lebensbedingungen der Arbeiter:innenschaft gravierend. Massenarbeitslosigkeit und Armut minderten die Organisationskraft der jungen Partei. Trotz alledem wurde in Neudörfl ein mutiges und würdiges Fundament für die österreichische Sozialdemokratie geschaffen, das schließlich zum Jahreswechsel 1888/1889 unter der Führung vom Arzt und Journalisten Victor Adler (1852–1918) zur endgültigen Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei führen sollte.
Autor: Michael Rosecker, Karl-Renner-Institut
Literatur: Neues Fremden-Blatt, 16.6.1874 // Gleichheit, 11.4.1874 // Walter Göhring: Die Gründungsparteitag der österreichischen Sozialdemokratie, Wien-München 1974 // Oskar Helmer: Aufbruch gegen das Unrecht, Wien 1964 // Helmut Konrad (Hg.): Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung. 100 Jahre sozialdemokratischer Parteitag. Neudörfl 1974, Wien 1976 // Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, München 2009 // Michael Rosecker: Zwischen Provinz und Internationale, Wiener Neustadt 2002 // Anna Staudacher: Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld, Wien 1988.