Der Hainfelder Parteitag und sein Programm

„… wenn wir Programme machen, sind wir schließlich alle Theoretiker.“ (Victor Adler)

Visionen und ihre Kompromisse, Widersprüche und ihre Synthesen

Eine Analyse des Historikers Mag. Dr. Michael Rosecker vom Karl-Renner-Institut, November 2013

Wer Gedenktage ernst nimmt und der Meinung ist, sie wären dazu da, innezuhalten, zurückzuschauen, um in der Vergangenheit Erkenntnisse für die Zukunft gewinnen zu können, die/der solle dies auch zum 125. Jubiläum des Hainfelder Einigungsparteitages tun. Obwohl dieser Blick zurück zunächst als ein Schauen in eine versunkene Welt erscheinen mag, lohnt er doch, da er einige Einblicke in die Entstehung sozialer politischer Bewegungen im Allgemeinen und der österreichischen Sozialdemokratie im Speziellen zulässt, die zumindest motivierende Inspirationen für die Gegenwart und eine herausfordernde Zukunft sein können.

Zunächst müssen „kakanische“ Gegebenheiten der Habsburgermonarchie in ihrer ökonomischen Entwicklung und gesellschaftlichen Verfasstheit berücksichtigt werden, um den Ablauf des Einigungsparteitages und dessen Programm einordnen zu können. Für die Entwicklung der ArbeiterInnenbewegung in Österreich waren zwei Eigenschaften der Industrialisierung des Landes entscheidend: sie erfolgte verzögert und insulär. Der Industrialisierungsprozess verlief zwar graduell, aber da ein „great spurt“ ausblieb, konnten gewisse Rückständigkeiten bis zum Ersten Weltkrieg nicht aufgeholt werden.1 Auch regionale wirtschaftliche und soziale Ungleichgewichte blieben bis 1914 bestehen. So setzte die Entwicklung der ArbeiterInnenbewegung, alleine im Vergleich zu den deutschen Ländern, ebenso verspätet wie insulär ein. Dort wo jedoch Industrialisierung stattfand, entwickelten sich schnell erste Schritte hin zu einer organisierten ArbeiterInnenbewegung.

Diese „sozioökonomische“ regionale Zersplitterung der ArbeiterInnenbewegung fand ihre Entsprechung und Förderung in einer rechtlich bedingten Zersplitterung. Die legalen organisatorischen Ursprünge lagen im liberalen Vereinsgesetz 1867. Dieses erleichterte zwar Vereinsgründungen, aber alle Formen überregionaler Kommunikation, Kooperation und Organisation waren für deklarierte „politische Vereine“ verboten. Ihnen war „untersagt, Zweigvereine (Filialen) zu gründen, Verbände unter sich zu bilden, oder sonst mit anderen Vereinen, sei es durch schriftlichen Verkehr, sei es durch Abgeordnete, in Verbindung zu treten“2. Es ist gerade für Österreich interessant, dass die cisleithanische Verfassung weder Regeln über die Tätigkeit noch Hinweise auf die Existenz politischer Parteien enthielt, auch gab es kein definiertes Verbot.3

Diese organisatorische Zersplitterung förderte ideologische Flügelkämpfe, lokale Selbstbezüglichkeiten der Arbeitervereine und persönliche Konflikte bzw. Befindlichkeiten „großer Männer“ in unzähligen für sie „zu kleinen“ lokalen Vereinen.4 Die ab dem Börsenkrach 1873 einsetzende Wirtschaftskrise und die stetig wachsende behördliche Verfolgung führten dazu, dass der erste Parteigründungsversuch in Neudörfl 1874 letztendlich scheiterte und die Arbeitervereinsnetzwerke schrittweise zerfielen bzw. behördlich verfolgt und verboten wurden. Die oft nicht einmal regional entschiedenen ideologischen Flügelkämpfe wuchsen sich zu einem überregionalen verheerenden Richtungsstreit zwischen den so genannten Gemäßigten und Radikalen aus und führten zu einer weiteren Verzögerung der Etablierung einer parteilich-organisierten überregionalen ArbeiterInnenbewegung. Der Vergleich zu Deutschland, wo bereits seit 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und seit 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei bestanden, macht dies deutlich.

In dieser Situation ist es wenig verwunderlich, dass jener Person, der die Einigung der verschiedenen lokalen Arbeitervereine über persönliche Befindlichkeiten und ideologische und nationale Grenzen hinweg, gelang, und dem Ort, wo dies erfolgte, beinahe religiös überhöhte Verehrung zu Teil wurde: Zum einen dem großen Victor Adler, der von Peter Altenberg sogar als „vom Bleigewichte seines Ichs“ befreite „tönend gewordene Menschheitsseele“ bezeichnet wurde. Zum anderen dem Ort Hainfeld, den Karl Renner noch 1945 pathetisch das „Bethlehem des österreichischen Sozialismus“ nannte.

Der Mythos Victor Adler begründet sich zunächst im selbstaufopfernden Bemühen des „zärtlicher Besorgten“ um die Linderung des Elends der ArbeiterInnenschaft und im nicht minder aufreibenden Wirken um die Schaffung einer „demokratischen Massenpartei neuen Stils“5. Ebenso seine schillernde Persönlichkeit begründete den Mythos: Er war ein jüdisch-assimilierter Bürgerlicher, deutschnationaler Demokrat, freisinniger Intellektueller, großer Schopenhauer-, Nietzsche- und Wagnerverehrer, theorie-skeptischer Praktiker, aufopfernder Armenarzt, Aufklärer und Rationalist, Journalist und Zeitungsgründer und ein zur (Selbst)Ironie begabter Rhetoriker. Dem Ort Hainfeld gereichten seine Abgeschiedenheit und die bekannte Liberalität des Bezirkshauptmannes von Lilienfeld, Leopold Graf von Auersperg, zum Mythos. Nicht zu unterschätzen ist auch die Entscheidung des Hainfelder Gastwirts Zehetner, den Parteitag doch in seinem Gasthaus stattfinden zu lassen, da er den Drohungen seiner vielen proletarischen Stammgäste, ihn nie mehr aufzusuchen, mehr Glauben schenkte, als den Strafdrohungen der niederösterreichischen Behörden.6 Als Vorbereitung der Einigung gründete Adler eine eigene Zeitung, „Die Gleichheit“, und stellte sich einer aufreibenden und nicht ungefährlichen Reise durch die Monarchie, um das Mandat für die Einberufung zum Parteitag zu erhalten. Am Parteitag selbst galt es vor allem personell und programmatisch die Einigung zu erreichen.

Zunächst wurde in Hainfeld das sozialdemokratische Urtrauma der Parteispaltung in ein prägendes und bewusstseinsbildendes weit in die Gegenwart reichendes Mantra verwandelt: „Der Parteitag […] erwartet von jedem Parteigenossen ehrliches und brüderliches Einstehen für die Gesamtpartei.“ Ein Delegierter spitzte die Einheitssehnsucht zu: „Die Hauptsache bleibt die Einigkeit.“ Die Parteieinheit wurde zur Hauptsache und zum obersten Wert befördert. Sie konnte aus dieser Räson heraus so über die Jahrzehnte erhalten werden, aber im Laufe der Parteigeschichte wurden aus dem selben Grund oft auch grundlegende Konflikte nicht ausgetragen und große Entscheidungen nicht getroffen.7

Auf dem Wege zur Hainfelder Prinzipien-Erklärung waren viele Kompromisse und Personalentscheidungen notwendig. Hier sei nur das Ausscheiden des langjährigen Arbeiterführers der Wiener Gemäßigten, Josef Bardorf, aus der entstehenden sozialdemokratischen Bewegung erwähnt. Er fiel dem notwendigen Kompromiss mit den Radikalen zum Opfer. Enttäuscht zog er sich zurück und denunzierte Adlers Kompromissbereitschaft als „jüdische Zweckmäßigkeitstheorie“8.

Das beschlossene Programm selbst diente, trotz oder wegen aller darin enthaltenen Kompromisse, in seiner politischen Konzentriertheit und mit all seiner visionären Kraft, abgesehen von kleinen Adaptionen 1901, bis zum Linzer Parteiprogramm 1926 als Leitstern der österreichischen Sozialdemokratie. Schon zu Beginn definiert es einen Begriff von Volk, oder besser ein politisches Menschenbild, das für die Zeit und Österreich wahrlich nicht selbstverständlich war: Die Befreiung aus den Fesseln der ökonomischen Abhängigkeit, die Beseitigung der politischen Rechtlosigkeit und die Erhebung aus der geistigen Verkümmerung wurden für „das gesamte Volk ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Geschlechtes“ erstrebt. Es wurden auch die Vorrechte der Nationen, die der Geburt, des Besitzes und der Abstammung verurteilt. Dass man selbst dem hohen Anspruch nicht immer gleich gerecht werden konnte oder wollte, demonstriert die Nichtzulassung der einzigen Frau, die zum Parteitag delegiert worden wäre, Anna Altmann aus dem böhmischen Polzental. Der emanzipatorische Anspruch stieß sich da an patriarchaler Vorstellung, paternalistischer Praxis und strategischer Skepsis gegenüber dem weiblichen Bildungshandicap der Zeit und der katholisch-religiösen Befangenheit vieler Frauen.

Im Grundsatzprogramm zeigte sich auch Adlers Ablehnung von Gewalt als politisches Mittel und seine distanzierte Haltung gegenüber zu viel ideologischer Abstraktion und allem „Hypothetischen“. Er war eben ein Praktiker, den vor allem „die Anwendung der Theorie in corpore vivo“9 interessierte. Obwohl sich das Programm in seinem analytischen Grundverständnis streng marxistisch verstand, wurden aber die sich aus dem Kommunistischen Manifest ergebenden Endkampfperspektiven und die damit verbundenen Vorstellungen vom gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung trotz mancher rhetorischer Zugeständnisse an die radikale Fraktion vermieden. Es wurde ein klar an Marx’schem Denken orientierter Zweck der Sozialdemokratischen Partei Österreichs definiert: „Die Befreiung der Arbeiterklasse“ als „Erfüllung einer geschichtlich notwendigen Entwicklung“ werde angestrebt, die durch den „Übergang der Arbeitsmittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesamtheit des arbeitenden Volkes“ erreicht werden solle. Träger dieses Zwecks sei ein klassenbewusstes und als Partei organisiertes Proletariat.

Bei den Mitteln, dieses Ziel zu erreichen, wurde jedoch besagter Widerwillen gegenüber Gewalt und besagte Skepsis gegenüber abstrakter Theorie sichtbar. Denn im weiteren Textverlauf der Prinzipien-Erklärung wurde dann der Wille das Proletariat „geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten“ als „eigentliches Programm“ festgeschrieben, zu dessen Durchführung die Arbeiterpartei sich „aller zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mitteln“ bedienen werde. Gerade Victors Adlers Hang, Theorie immer nur in Bezug auf ihren praktischen Nutzen für die Schaffung einer „Arbeiterklasse europäischen Zuschnitts“ ernst zu nehmen10, und sein Streben nach einem „Überflüssigmachen der Revolution als praktische Perspektive“11 legten den Grundstein für eine pragmatische sozialdemokratische Reformpolitik, die zunächst im solidarischen Miteinander auf Basis der Selbsthilfe versuchte, materielle Nöte zu lindern, und im Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht eine Erziehungs-, Mobilisierung- und bürgerrechtliche Gleichstellungsmaßnahme für die ArbeiterInnenschaft sah.12 All das wurde – vor allem im Menschenbild und Gesellschaftsverständnis Victor Adlers – verschränkt mit einer „poetischen Politik“ der Ästhetisierung des Politischen und der Aufladung der sozialdemokratischen Organisationen mit einer quasireligiösen Aura. Diese Verschränkung führte zu einer emotionalen Bindung breiter Volksschichten an die Bewegung, die ihresgleichen in Europa sucht und den sendungsbewussten Kampf um Modernisierung, Demokratisierung und Liberalisierung ins Zentrum des politischen Aktivismus stellte.13

Ebenso das in Hainfeld begründete Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum ist auch als Besonderheit österreichischer Sozialdemokratie zu bewerten. So bildeten zwar die alles umfassenden Klammern die Parteieinheit und die Schaffung einer modernen Massenpartei durch ein diszipliniertes Proletariat, dennoch war in der Prinzipien-Erklärung auch ein individualistisch-liberaler Grundzug enthalten. Vor allem auch Victor Adler selbst brachte von Anfang an kulturliberales Denken und Hochachtung für das Individuum in die Bewegung. So meinte er in seiner Rede zur Prinzipienerklärung: „Das erste, angeborenste und niemals je genommene Menschenrecht ist das, ein ganz spezielles, persönliches Programm zu haben. Jeder Mensch, hat das Recht zum Parteiprogramm auch noch Anmerkungen zu machen.“ Auch hier spannte sich ein Widerspruch auf, der Disziplinierung und Einordnung in die Gemeinschaft genauso einforderte, wie er politisches Engagement „als Akt einer neugewonnenen persönlichen Autonomie“14 anbot. Auch darin begründete sich die Fähigkeit der österreichischen Sozialdemokratie eine intensive Bindungskraft an die Bewegung und die sie leitende Ideologie zu entwickeln, die auf den/die einfache/n ArbeiterIn genauso wirkte wie auf Intellektuelle. So wurden Menschen, die vielleicht sonst nicht zueinander gefunden hätten, für eine das Klasseninteresse weit übersteigende gemeinsame Sache nachhaltig zusammengeführt.

Die Hainfelder Prinzipien-Erklärung ist ein großer Meilenstein gesellschaftlicher Analyse, politischer Programmatik, aber auch politischer Praxis und Strategie. Kompromiss und Vision, Theorie und Pragmatismus stehen sich hier nicht als Widersprüche gegenüber, sondern erscheinen vielmehr als eine Art Synthese von tiefem Empfinden und aufgeklärtem Rationalismus, visionärem Möglichkeits- und pragmatischem Wirklichkeitssinn und gemeinschaftlicher Disziplinierung und individuellem Freiheitsversprechen. Diese Synthesen setzten menschliche Hoffnung und Begeisterung frei, schufen tiefe Bindungen und erzeugten damit produktive Energien der Gesellschaftsveränderung, Demokratisierung und Selbstermächtigung. Manche dieser „Synthesen“ entfalteten in den großen Krisen dieses Landes viel Problemlösungskompetenz und demokratische Schaffenskraft. Erst in den Wirren des Februars 1934 fand das österreichische sozialdemokratische Experiment die „ökonomische, geistige und politische Befreiung der Arbeiterklasse“15 zu erreichen, wie Victor Adler es in der ersten Ausgabe der Arbeiter-Zeitung am 12. Juli 1889 umschrieb, durch die fatale Wirtschaftskrise und die Übermacht und Brutalität der Feinde der Demokratie ein vorläufiges Ende. Der humanistische Kompromiss „das Hirn zu erhellen“ und „das Herz zu erwärmen“16, als Synthese eines vermeintlichen politischen Widerspruchs, scheiterte an der hasserfüllten Kompromiss- und reaktionären Visionslosigkeit des österreichischen Faschismus.

Dennoch betrat in Hainfeld endgültig eine politische Bewegung die Bühne, die tief mit der Geschichte dieses Landes verwoben ist und viel zu dessen heutiger demokratischer Stabilität, geistiger Schaffenskraft und dessen heutigem materiellen Wohlstand beigetragen hat. So lohnt es sich auch heute zum 125. Jubiläum der Ereignisse in Hainfeld einen Blick zurück zu werfen, um zu wissen, wie sehr – frei nach Victor Adler – demokratische Politik schöpferisch sein kann, wenn das „Hirn klar denkt“ und das „Herz energisch will“17.

Literatur:

1 Peter Eigner (1997): Die Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert: Ein Musterfall verzögerter Industrialisierung? In: Beiträge zur historischen Sozialkunde. Nr. 3/97. 27. Jg.

2 Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaisertum Oesterreich. Jahrgang 1867. Gesetz vom 15. November 1867 über das Vereinsrecht. Zitiert nach: alex.onb.ac.at

3 Vgl.: Peter Rumpler / Peter Urbanitsch (Hg.) (2000): Die Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Band VII: Verfassung und Parlamentarismus. 2. Teilband: Die regionalen Repräsentativkörperschaften.

4 Vgl.: Michael Rosecker (2002): Zwischen Provinz und Internationale. Die frühe Arbeitervereinswelt am Beispiel Wiener Neustadt.

5 Wolfgang Maderthaner: Victor Adler. In: Victor Adler / Friedrich Engels (2011): Briefwechsel. S. IX

6 Vgl: Franz Kreutzer (1988): Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen. Der Ursprung der österreichischen Arbeiterbewegung. S. 138

7 Norbert Leser (1968): Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis.

8 Hans Mommsen (2011): Arbeiterbewegung und Nationale Frage. Ausgewählte Aufsätze. S.185

9 Aussage in einem Brief an Friedrich Engels. Zitiert nach: Mommsen: Arbeiterbewegung. S.192

10 Maderthaner: Victor Adler. S. XIII

11 Nach: Leser: Zwischen Reformismus und Bolschewismus. S. 211

12 Vgl.: Rudolf G. Ardelt (1994): Vom Kampf um Bürgerrechte zum Burgfrieden. Studien zur Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie.

13 Stefano Bartolini (2000): The political Mobilization of the European Left, 1860 bis 1980, S.81 und Wolfgang Maderthaner (1994): Victor Adler und die Politik der Symbole. In: Norbert Leser / Manfred Wagner: Österreichs Symbole. S. 163

14 Alfred Pfabigan (2000): Die Enttäuschung der Moderne. S. 124

15 Peter Pelinka / Manfred Scheuch (1989): 100 Jahre AZ. S. 15

16 Ebenda.

17 Ebenda.

Victor Adler (Foto: Wikimedia Commons)
Victor Adler (Foto: Wikimedia Commons)