„Studieren Sie Jus!“ - Bruno Kreisky & Otto Bauer
Der große sozialdemokratische Ideologe Otto Bauer beeinflusste den jungen Bruno Kreisky sehr.
Eine historische Betrachtung von Manfred Scheuch. In "Österreich Magazin", Ausgabe 1/2011
Bei der Nationalratswahl 1966 erlitt die SPÖ eine bittere Niederlage. Die ÖVP unter Bundeskanzler Josef Klaus errang die absolute Mehrheit. Es lag auf der Hand, dass nur eine grundlegende Erneuerung die SPÖ in der kommenden Wahlrunde 1970 wieder auf den Erfolgsweg führen könnte. Der für 1. Februar 1967 einberufene Bundesparteitag sollte diese Wende herbeiführen. Es erhob sich der Ruf nach einer Neuwahl des Parteivorsitzenden, zumal der schwer erkrankte Bruno Pittermann ausfiel. Bei der Debatte in der SPÖ über einen neuen Parteivorsitzenden wurde vor allem in den Bundesländern immer öfter sein Name genannt. Aber es herrschte im Parteivorstand keineswegs eine einhellige Meinung dazu. Es kam zu einer Stichwahl zwischen Kreisky und dem Niederösterreicher Hans Czettel. Die Delegierten entschieden sich mit 347 von 497 Stimmen für Bruno Kreisky.
In welchem Geist Bruno Kreisky diesen großen Auftrag empfand, zeigt eine Episode unmittelbar nach dem Ende des Parteitags. Der neue SPÖ-Vorsitzende betrat das “Vorwärts“-Haus an der Wienzeile, ging in die Redaktionsräume der „Arbeiter-Zeitung“ (AZ) und betrat kurz das Zimmer des Chefredakteurs Franz Kreuzer. Kreisky öffnete die Tür zu einem kleinen Raum nebenan. In diesem Raum hing ein großes Bildnis von Otto Bauer, der hier vor 1934 seine Leitartikel verfasst hatte. Bruno Kreisky verharrte dort eine ganze Weile, offenbar tief berührt und in Gedanken versunken. Indirekt haben seine Verehrung für den Vordenker Otto Bauer und seine Gespräche mit diesem zu seinem politischen Werdegang maßgebend beigetragen. Otto Bauer war in den Jahren der Ersten Republik zwar nie SPÖ-Partei-Vorsitzender, aber seine Schriften wurden tonangebend für den politischen Kurs der Sozialdemokratischen Partei. Kreisky hat sich schon in seiner Jugend mit den Schriften und Reden Otto Bauers vertraut gemacht und sah in Bauers Intellekt „die unglaublicher Gabe, das Gedachte in Worte umzusetzen“, die auch einfachen Menschen verständlich waren.
Kreisky verhehlt nicht, dass ihm diese Ausdrucksweise zum Vorbild wurde: auch in großen Versammlungen so zu sprechen, dass jeder Einzelne sich angesprochen fühlt, und die Dinge so einfach wie möglich darzustellen. „Ich glaube, dass mir das gelungen ist“. Zu einer näheren Begegnung zwischen Kreisky und seinem großen Vorbild kam es durch die Gewohnheit Otto Bauers – dem SPÖ-Listenführer für den 4. Bezirk –, nach seinen Reden einen der Jüngeren zu einem Abendspaziergang zur Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“, wo er noch spätnachts seine Leitartikel schrieb, einzuladen. Die Wieden war Kreiskys Wohnbezirk, und so kam er bald in die Reihe jener, die mit Bauer intensive Gespräche führen konnten. „Ich habe nie erlebt, dass Otto Bauer von einer noch so provokanten Frage verletzt gewesen wäre“. Eines Abends kam das Gespräch auf Kreiskys Studium – Kreisky neigte zur Medizin. „Wenn Sie der Partei wirklich einen Dienst erweisen wollen, müssen Sie Jurist werden. Studieren Sie Jus!“, meinte Bauer. So kam Kreisky auf die juristische Fakultät.
Bei aller Zustimmung zu vielen Thesen Bauers und bei aller Verehrung hat sich Kreisky auch Kritik an Bauers Ansichten keineswegs versagt. Allerdings hob er als größten Verdienst Otto Bauers und auch Friedrich Adlers hervor, dass sie als entschiedene Gegner des Kommunismus das Drängen von Bela Kun, sich der ungarischen Räterepublik anzuschließen, ablehnten. Dass Otto Bauer dagegen noch nach der Annexion Österreichs 1938 von einer großen „gesamtdeutschen Revolution“ träumte, fand bei Kreisky ebenso wenig Zustimmung wie die im Linzer Parteiprogramm von 1926 festgehaltene Option von der Diktatur des Proletariats. Sie haftete der Partei "wie ein Brandmal an“, urteilt Kreisky.
Die letzte Begegnung Bruno Kreiskys mit Otto Bauer erfolgte nach dem Verbot der Partei durch die Austrofaschisten 1934, als Mitglieder des Parteivorstands in Brünn das Auslandsbüro (ALÖS) der Partei gründeten. Dort wurde unter anderem die illegale „Arbeiter-Zeitung“ gedruckt, die nach Österreich geschmuggelt wurde. Kreisky wurde nach Brünn mit dem Auftrag geschickt, Tausende österreichische Briefmarken zum ALÖS zu bringen, um die AZ in Österreich per Post an die Adressen von Anhängern zu senden. Kreisky hatte Gelegenheit, mit Otto Bauer lange Gespräche über die mutmaßliche Dauer des Austrofaschismus und die Bedrohung durch die Nazis (die Kanzler Dollfuß ermordet hatten) zu führen – „Ich zähle diese nächtlichen Stunden in Brünn zu den ganz großen Glücksfällen meines Lebens“ . Kreisky konnte danach unbehelligt wieder nach Wien fahren. Eine zweite Reise Kreiskys zu einer „Reichskonferenz“ der SDAP in Brünn, ging nicht so glimpflich ab. Es war Kreiskys letzte Begegnung mit Otto Bauer, in dessen kleiner Wohnung er übernachtete. Nach der Rückkehr wurden die beiden Delegierten von der Staatspolizei verhaftet, und es folgte der große Sozialistenprozess, der Kreisky für viele Monate in Gefängnishaft brachte.