Sozialdemokratie und Arbeiterschaft im Nationalsozialismus

Unmittelbar nach dem "Anschluss" 1938 war es den nationalsozialistischen Machthabern ein besonderes Anliegen, die österreichischen Arbeiter zu gewinnen. Von Manfred Scheuch

Im Februar 1934 war der demokratisch gewählte Bürgermeister von Wien, der Sozialdemokrat Karl Seitz, aus seinem Amt vertrieben und verhaftet worden. An seine Stelle setzten die Austrofaschisten Richard Schmitz. Im März 1938 traf diesen ein noch härteres Los: Die Nationalsozialisten sperrten ihn ein, und mit vielen anderen Ständestaat-Politikern, aber auch mit Linken, kam er im ersten Häftlingstransport am 1. April ins Konzentrationslager Dachau.

1938: NS-Werbeparolen auf dem Goethe-Hof (Foto: VGA)Zum Wiener Bürgermeister hatten die neuen Machthaber Hermann Neubacher, Wirtschaftsfachmann und illegaler Nazi, ausersehen. Er war Generaldirektor der Gesiba gewesen, die den von den Sozialdemokraten so erfolgreich betriebenen kommunalen Wohnbau koordinierte. Die Nationalsozialisten wussten, dass die Wiener Arbeiter trotz der Verbote und Schikanen durch das vaterländische Regime in ihrer Masse "rot" geblieben waren, und es lag ihnen viel daran, sie für sich zu gewinnen. Neubacher, der ja in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ein gutes Verhältnis zur sozialdemokratischen Stadtverwaltung hatte, schien dafür der richtige Mann, umso mehr, als die Arbeiterschaft der abgetretenen Politikergarnitur keine Träne nachweinte.

Neubacher begann sofort nach seiner Bestellung, sich dieser Aufgabe zu widmen, und es ist anzunehmen, dass er dafür von ganz oben grünes Licht bekommen hatte. Schon in seinen ersten Richtlinien gab er seinen offenbar verunsicherten NS-Funktionären zu verstehen, wie die Überzeugungsarbeit laufen sollte: Nicht mit Geschwätz und gestellten Versammlungen seien diese "ordentlichen Männer" zu überzeugen, sondern nur mit großen Aufbauleistungen und mit einer Ordnung, die die Arbeiter langfristig sichere.

„Neubacher Aktion“

Noch im März sprach Neubacher dreimal vor Arbeitern in städtischen Betrieben, und die Schalmeientöne, mit denen er dabei vorging, klangen für manche SA-Leute, die vor 1934 blutige Kämpfe mit den "Roten" ausgefochten hatten, ungeheuerlich; auch der "Völkische Beobachter", das Organ der NSDAP, hütete sich, Neubachers Auslassungen wiederzugeben: "Ehemalige Schutzbündler, wir verstehen euch: Ihr habt einen Glauben gehabt, wir glauben auch. Ihr seid dafür eingestanden, wir haben es durch bittere Jahre getan, bis zum Siege. Ihr wart Revolutionäre, wir sind es auch. Ihr wurdet durch die Gefängnisse und Konzentrationslager des Systems geschleift – wir und ich auch. Heute reichen wir euch die Hände: Wollt ihr mit uns treu und bis zum letzten Einsatz bereit arbeiten? (Zurufe: Ja!) Dann nehme ich dieses Gelöbnis von jedem von euch entgegen. Unserem großen Führer Sieg Heil!"

Die "Neubacher-Aktion" sprach sich in der Arbeiterschaft herum. Ihm wurde die Wiedereinstellung von Februarkämpfern, die entlassen worden waren, zugeschrieben, und man holte ihn als Propagandisten auch in die Industriegebiete südlich von Wien. In seinem Eifer, den "Deutschen Sozialismus" gegen den Marxismus auszuspielen, rutschten ihm auch Worte aus, die aufmerksame Zuhörer ahnen ließen, wohin der Hase laufen würde: "Ja, deutsche Volksgenossen, in der Welt sind es nicht die Klassen, die sich auseinandersetzen müssen, in der Welt sind es die Völker, die sich auseinandersetzen müssen, die Völker, die um Raum und Geltung kämpfen, die Völker, die in den großen Wettbewerb treten um die wissenschaftliche und wirtschaftliche Führung der Menschheit ... " Nach nicht viel mehr als einem Jahr war dann der Kampf um die Führung der Welt da, und es bewahrheitete sich in grauenhaftem Ausmaß, ·was weitblickende Sozialisten schon seit langem gesagt hatten: "Hitler - das ist der Krieg!"

Hohe Arbeitslosenrate

Aber noch war es nicht so weit. Noch sahen die Arbeiter die Schlote wieder rauchen, noch wurden, wie in Linz, gigantische Industriewerke aus dem Boden gestampft – und Zehntausende waren froh, wieder an der Werkbank, an den Maschinen, an den Stahlkochern zu stehen. Im "Ständestaat" waren noch im Jänner 1938 mehr als 400.000 Arbeitslose registriert, von denen aber nur etwa die Hälfte Arbeitslosenunterstützung bezog, die übrigen "Ausgesteuerten" waren der Fürsorge überlassen. Als Sofortmaßnahme wurde diesen nun ab 1. April wieder das Arbeitslosengeld ausbezahlt. Nach den spektakulären Wiedereinstellungsaktionen lief die Beschäftigung der Masse der Arbeitslosen im Frühsommer an, wobei die Branchen, in denen die Rüstung in Mittelpunkt stand, weitaus die meisten Arbeiter aufnahmen; zum Teil auch für das "Altreich", wo schon Arbeitskräftemangel herrschte.

Werben um die Arbeiterschaft

Der Historiker Gerhard Botz, dessen erweitertes Standardwerk "Nationalsozialismus in Wien" jüngst neu erschienen ist, sieht in diesem Werben der Nazis um die Arbeiterschaft über gewisse wirtschaftliche und soziale Verbesserungen einen der Gründe für die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten zur Hitlerdiktatur, auch noch weit in den (zunächst siegtrunkenen) Krieg hinein. Durch die Beseitigung der Arbeitslosigkeit stieg das Realeinkommen, was – trotz Beschränkungen in Angebot und Qualität – vielen größeren Zugang zu über das tägliche Brot hinausgehenden Gütern verschaffte. Dazu kamen, gerade für Arbeiter und Angestellte, kostengünstige Freizeitangebote wie die Reisen der Organisation "Kraft durch Freude" (KdF), Theaterbesuche und betriebliche Sportmöglichkeiten.

Ein wesentliches Zugeständnis an die Werktätigen war die Einführung einer Rentenversicherung endlich auch für Arbeiter. Zugleich aber mussten die Lohnabhängigen die Schattenseiten des Systems hinnehmen: die Ausschaltung der Gewerkschaften, die Organisation der Betriebe nach dem "Führerprinzip" mit einem Nazichef und der hinter ihm stehenden "Gefolgschaft", gemeinsam in der "Deutschen Arbeitsfront" (DAF). Die Anbiederung der Nazis hatte speziell bei der Industriearbeiterschaft keinen durchschlagenden Erfolg. Zwar beeindruckte der Aufschwung der Wirtschaft, deren Orientierung auf den künftigen Krieg aber weckte bei den ideologisch bewussten Arbeitern den Widerstand.

Die Kommunisten ließen sich auch durch den Hitler-Stalin-Pakt zur Teilung Polens nicht irremachen, schon 1938/39 nahm die Gestapo mehr als 2.000 fest. Bei den Sozialdemokraten verfolgte der Polizeiapparat eine andere Taktik: Hier wurden vor allem die Funktionäre der – durch Verrat aufgedeckten – RS (Revolutionäre Sozialisten) verhaftet und, wie Käthe Leichter, Friederike Nödl, Rosa Jochmann und Friedrich Hillegeist, in Konzentrationslager eingeliefert. Das ließ so manche erkennen, was hinter den schönen Worten Neubachers steckte. Aber auch er hatte in einer seiner Ansprachen schon gedroht: "Aber eine offensichtliche Störung des Betriebes werden wir mit entschlossenen Mitteln beantworten ... Entweder Ruhe, oder die SA steht dort. Das werden wir unter keinen Umständen dulden."




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